»organisationsentwicklung – aber wohin?«
Organisationsentwicklung (OE) hat sich zu einem kaum mehr überschaubaren Feld entwickelt, das zudem an vielen Stellen offen lässt, wofür es eigentlich steht. Insbesondere die Trenddiskurse der letzten Jahre wie Agilität und digitale Transformation, New Work und Nachhaltigkeit, lernende und postbürokratische Organisationen etc. haben die Frage nach der zweckmäßigen Gestaltung von Organisationen wieder in den Fokus gerückt. Dabei geht es einmal mehr um „Managementmoden“, also die Durchsetzung vermeintlich „neuer” Methoden und Denkweisen, die als „Patentrezepte“ verbindliche Antworten auf grundlegende Fragen der Organisation versprechen, diesen aber ausweichen.
Sinnsprüche aus Poesiealben als zukunftsfähige Organisationsgestaltung?
Um nicht missverstanden zu werden: Bildhafte und vereinfachende Darstellungen können helfen, Ordnung in die neue Unübersichtlichkeit zu bringen und dazu einladen, sich ihr überhaupt zu stellen. Sie müssen aber mit der Einsicht einhergehen: Die Karte ist nicht das Territorium, das sie darstellen möchte. Komplexe Organisationen und die Menschen, die darin arbeiten und miteinander interagieren, lassen sich nicht in Templates zwängen. Governance, Prozessdesign oder der Umgang mit organisationalen Paradoxien mögen als kollektive Herausforderungen weniger spannend erscheinen, als Design Thinking Workshops, Planning Poker oder Liberating Structures. Aber sie bereiten den Boden, auf dem die spannenderen Themen überhaupt erst möglich werden. Insofern geht es also nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein Sowohl-als-auch. Die „harten“ betriebswirtschaftlichen Methoden stehen nicht im Gegensatz zu den „weichen“ Anätzen des neuen Arbeitens, sondern bedingen einander wechselseitig. Die Folgen sind absehbar, wenn man die eine Seite auf Kosten der anderen ignoriert.
Betriebswirtschaftliche Methoden stehen nicht im Gegensatz zum neuen Arbeiten!
Bemerkenswert ist, dass die meisten dieser vereinfachenden „Playbooks“ mehr oder weniger dem gleichen Schema folgen bzw. sich auf die gleichen Quellen berufen. Dies könnte ein Hinweis auf ein gewachsenes kollektives Wissen sein, wie Organisationen heute sinnvoll entwickelt werden können, also ein empirischer oder evidenzbasierter Beleg dafür, dass es so etwas wie eine „best practice“ in der OE gibt. Es könnte aber auch schlicht ein Indiz für Denkfaulheit sein, sich der Erkenntnisse einer Handvoll Bestsellerautoren als Zutaten für einen Eintopf zu bedienen, den man dann nur noch für die eigene Organisation aufkochen muss.
Wie der Buchtitel schon erahnen lässt, steht am Beginn einer Organisationsentwicklung meist Simon Sineks „Start with why“, das den Rahmen dafür aufspannt, warum man tut, was man eben tut. Hat man sich also im ersten Schritt einen Zweck gegeben, der den Mitarbeitenden Sinn und Orientierung geben soll und die Weltverbesserung im Kleinen zumindest ins Auge fasst, kann man sich im nächsten Schritt daran machen, das strategische Feld für die Organisation zu bestellen. Je nach Neigung oder „Empfehlung von Freunden“ könnte man hier Kim/Mauborgnes „Blue Ocean Strategy“, Hamels „Humanocracy“, Mintzbergs „Strategy Safari“ oder auch Harnishs „Scaling Up“ zurückgreifen, die bitte alle Mitglieder des Lenkungskreises vor unserer Strategieklausur auf dem Öko-Bauernhof gelesen haben sollten. Da die Zeit wie immer knapper ausfällt als geplant und man nicht mit leeren Händen zurück ins Büro kommen will, einigt man sich am Ende der Klausur pragmatisch auf das schnelle Ausfüllen des „Business Model Canvas“ von Osterwalder/Pigneur. So hat man zumindest die Kernfragen, wenn nicht beantwortet, so doch in Spalten eingetragen, und kann dem daheim gebliebenen Team illustrieren, dass das zeremonielle Ritual der jährlichen Strategiefindung und Geschäftsmodellüberprüfung einen erfolgreichen Abschluss gefunden hat.
Je nach Geschmack kann man auch einen der schwerer verdaulichen Ansätze auftischen und etwa Ries‘ „Lean Startup“, Kotters „Accelerate“ oder gar Robertsons „Holacracy“ beim Offsite servieren. Auf keinem Fall fehlen darf die Überprüfung des eigenen Vorgehens mit der „Bibel“ der integralen Organisationsentwicklung, Frederic Laloux‘ „Reinventing Organizations“, am besten in der illustrierten Ausgabe (deutlich reduzierte Lesezeit!). Hier lässt sich dann auch eine Art Benchmark dafür anlegen, wie weit die eigene Organisation noch vom Selbstorganisationsparadies der niederländischen Pflegeorganisation Buurtzorg entfernt ist. Braucht man noch ein wenig akademischen Überbau zum Abschmecken, geht man eigentlich nie fehl, wenn man noch einige Zitate von March, Argyris, Schein oder Luhmann einsprenkelt.
So bereitet und gewürzt, lässt sich die Zukunft des New-Work-Unternehmens trefflich entwickeln. Punkt, Punkt, Komma, Strich: fertig ist das Mondgesicht der anpassungsfähigen, innovativen, nachhaltigen und achtsamen New-Work-Organisation. Natürlich wissen die meisten Beteiligten, dass die oben genannte Plattitüde, Organisationen und ihre Mitarbeitenden lassen sich nicht in Templates zwängen, stimmt. Also muss der Eintopf wahrscheinlich noch mit weiteren bekömmlichen Zutaten angereichert werden, die man situativ aus dem Methoden- oder Theoriekoffer zieht. Hier ist die Zahl der Buzzwords, die rationale Handlungsfähigkeit und nebenbei organisationsentwicklerische Kompetenz suggerieren, gar nicht mehr überschaubar: Fehlerkultur und Achtsamkeit, lernende oder agil-stabile Organisationen, Intrapreneurship und Working Out Loud, Data-driven Überall und Ambidextrie, etc. pp. Apropos Ambidextrie: Wo habe ich gerade gelesen, dass gute Unternehmensführung die Balance zwischen den Polen „explore“ und „exploit“ erfordert, also des Austarierens von Stabilität und Veränderung? Echt jetzt? Hier hilft es vielleicht der guten Verdauung, sich der normativen Aufladung von Managementmoden zu erinnern, wie sie Matthiesen/Muster/Laudenbach in „Die Humanisierung der Organisation“ prägnant auf den Punkt gebracht haben: „Die Begriffe erfüllen ihren Zweck unabhängig davon, mit welcher Bedeutung sie versehen werden.“
Auch hier ein Wort der Mäßigung in der Provokation: Jedes der genannten Bücher ist lesenswert und die Theorien, Tools und Methoden können im richtigen Kontext durchaus helfen, die eigene Organisation (weiter) zu entwickeln. Schwieriger wird es mit den bildreichen Melangen, die sich einzelne Bausteine aus den Büchern herauspicken und dann im Tiegel verschmelzen, ohne die Frage nach der Passung zu stellen. So oder so bedarf es immer einer Transferleistung, d.h. der Anstrengung zu identifizieren, was, wie, wann, womit und an welchen Stellen sinnvoll auf das eigene Unternehmen übertragbar ist. Es gibt eben keine „Blaupausen“ und viele der OE-Eintopf-Templates verleiten eher dazu, Wesentliches zu übersehen oder Komplexes zu bagatellisieren. Auch Verfechter der neuen Arbeit – zu denen ich mich prinzipiell zähle – erkennen die Notwendigkeit von – betriebswirtschaftlicher – Effektivität und Effizienz im Denken und Handeln von Organisationen an. Hinter der verlockenden Fassade von Handlungs- und Entscheidungsfreiheit wirken durchaus konventionelle Einflussfaktoren, die es zu adressieren gilt. Buchtitel wie „New Work Needs Inner Work“, “Selbstorganisation braucht Führung”, “New Work braucht New Learning”, „Doing Agile Right“ oder “Fix Your Team” sind deutliche Fingerzeige, wo im Hinblick auf die Entwicklung von Organisationen offensichtlich Handlungsbedarf besteht.
Es gibt eben keine „Blaupausen“ und Templates verleiten eher dazu, Wesentliches zu übersehen und Komplexes zu bagatellisieren.
Handlungsbedarf ist ein entscheidendes Stichwort, denn darum geht es bei den meisten der genannten Vereinfachungen: möglichst schnell ins Handeln kommen, Komplexität reduzieren, Endlosmeetings beenden, Denkschleifen vermeiden, Entscheidungsparalysen auflösen, oder auch sense- think-act-repeat. Dass dabei das eine oder andere auf der Strecke bleibt, wird – meist unausgesprochen – in Kauf genommen. Hier sind wir nun auch endlich bei der Bedeutung von Organisationsentwicklung, nämlich einem Begriff, der sich aus zwei substantivierten Tätigkeitswörtern zusammensetzt und somit folgerichtig ein Tun konnotiert. Organisieren bezieht sich auf die nicht ganz triviale Aufgabe, Zusammenarbeit zu ermöglichen, sei es selbstorganisiert oder per Führungsentscheidung. Entwickeln geht von einer prozesshaften Beschreibung der Welt aus und verweist auf Veränderung, die sich über die Zeit erstreckt und deren Phasen aufeinander aufbauen. So gesehen ist OE offenbar etwas, das sich mit der Veränderung von Zusammenarbeit über die Zeit oder mit Zusammenarbeit in (fortlaufenden) Veränderungsprozessen beschäftigt. Diese Hintergrundfolie möchte ich bei den folgenden Betrachtungen anlegen, die teilweise nahtlos an die Kolleg:innen anschließen, die die vorgenannten Handlungsbedarfe thematisiert haben.
New Work hat sich seit der Einführung des Begriffs durch Bergmann in den 1970er Jahren teilweise ähnlich diffus entwickelt, wie wir es für den Begriff der OE festgestellt haben. Im Kern geht es um Prinzipien wie (Wahl-)Freiheit, Selbstbestimmung/Autonomie, Sicherheit, Sinn, Selbstverwirklichung, Kompetenz und Wirksamkeit sowie soziale Teilhabe bzw. Zugehörigkeit (Foelsing/Schmitz 2021). Ergänzen möchte ich das Prinzip der Verantwortung, denn nur durch verantwortliches Wirtschaften kann meines Erachtens die grundlegende unternehmerische Aufgabe, nämlich die nachhaltige Sicherung des Überlebens der Organisation in der Zukunft, bewältigt werden. Hier zeigt sich, um meine Provokation wieder aufzugreifen, eine Parallele des „neuen Arbeitens“ zu einem Modell, das „altbackener“ nicht sein könnte und leider vollständig ohne Templates auskommen muss: das Leitbild des „ehrbaren Kaufmanns“.
Das Leitbild des „ehrbaren Kaufmanns“
Schon im Mittelalter, also in den Urzeiten sich entwickelnder Organisationen, entwickelte sich mit dem Leitbild des „ehrbaren Kaufmanns“ ein Paradigma, das neben der Verantwortung für den wirtschaftlichen Erfolg des eigenen Unternehmens auch die Verantwortung für Gesellschaft und Umwelt mit einschloss. Zwar wirkt der “ehrbare Kaufmann” allein sprachlich wie aus der Zeit gefallen, aber die Werte, für die er stand, lesen sich wie die Satzung eines New-Work-Unternehmens. Ausgehend von einem humanistischen Weltbild, das z.B. die Zufriedenheit und faire Behandlung der Mitarbeiter in den Vordergrund stellt, bemühen sich ehrbare Kaufleute um nachhaltiges Wirtschaften, ehrliche und transparente Kunden- und Lieferantenbeziehungen, die Beachtung der Auswirkungen unternehmerischen Handelns auf Öffentlichkeit und Ökologie etc. Als Realist:in, Pragmatiker:in oder Zyniker:in des 21. Jahrhunderts mag dieses „Mindset“ naiv oder realitätsfern erscheinen. Als überzeugter New Worker müsste es mir jedoch ein Anliegen sein, diese Themen ernst zu nehmen und verantwortungsvoll in die Praxis umzusetzen.
Eine wesentliche Kompetenz des „ehrbaren Kaufmanns“ ist daher die Herbeiführung „wirtschaftlichen Erfolgs“. Dies gilt im Übrigen auch für Nonprofit-Organisationen, die zwar keine Gewinnziele anstreben, deren wirtschaftliches Überleben jedoch die Mindestvoraussetzung für ihre Existenz darstellt. In meiner Beratungstätigkeit begegne ich häufiger New-Work-Organisationen, die diese Voraussetzungen zum Teil fahrlässig außer Acht lassen oder zumindest sträflich vernachlässigen. Die Prioritäten liegen oft woanders. Wenn auf die drohende Insolvenz mit einem Ruf nach mehr Diversität in der Workforce reagiert wird, Konflikte aus bloßer Harmoniesucht nicht ausgetragen werden, die Umsetzung notwendiger Prozesse mit Gamification zu einem internen Wettbewerb führt oder die 10-Stunden-Woche von einer Mitarbeiterin bereits als unzumutbar für die angestrebte Work-Life-Balance angesehen wird, dann dürfte die nachhaltige Überlebenssicherung der Organisation bald kein Thema mehr sein – weil es sich von selbst erledigt hat.
Bisher habe ich die Eingangsfrage nach dem „Wohin?“ der OE vermieden und stattdessen Wege aufgezeigt, die sie besser nicht verfolgen sollte. Der Grund dafür ist einfach: Ich glaube nicht, dass es einfache Antworten darauf gibt. Führung, Lenkungskreise, Manager:innen oder Genoss:innen sind dauerhaft mit Aufgaben beschäftigt, die nicht weggehen und die leider auch nicht ein für allemal gelöst werden können. Dazu gehören in erster Linie der Umgang mit Komplexität, das „Management“ von Paradoxien und die Befähigung zur Ambiguitätstoleranz. In zweiter Linie scheinen mir die empirischen Befunde der Neuro- und Verhaltenswissenschaften, insbesondere in den Feldern der Kollaborationsforschung und der kollektiven Intentionalität, wesentlich, um erfolgreich in New Work Organisationen intervenieren zu können. Für die OE bedeutet dies, sich in diesen Themen kompetent zu machen und Interventionsmethoden zu entwickeln, die einen Unterschied machen, wie Zusammenarbeit in Organisationen gestaltet wird. Drittens wird man gerade in New Work Kontexten nicht umhin kommen, sich mit „unliebsamen“ Themen wie Macht, Hierarchie, Eigentum oder Recht auseinanderzusetzen und für die eigene Organisation je spezifische Ausgestaltungen zu finden. Und das alles neben den betriebswirtschaftlichen Aufgaben, die ja auch bearbeitet werden müssen.
Die Herausforderungen, denen wir uns als Organisationen heute stellen müssen, sind so komplex und teilweise nicht greifbar, dass man schier verzweifeln könnte, wenn man nicht wüsste, dass Verzweiflung kein guter Ratgeber ist, schon gar nicht in Krisensituationen. Vor diesem Hintergrund ist all das, was ich hier kritisiere, mehr als verständlich und zutiefst menschlich. Die Suche nach einfachen Antworten ist auch eine Suche nach Trost und Hoffnung; und wer sagt denn, dass meine Zahlen nicht doch bei der nächsten Ziehung den Jackpot knacken? Aber, wie ich darlegte, kann es nicht die vorrangige Aufgabe der OE sein, einfache Antworten und Lösungen zu präsentieren, sondern solche, die den verantwortungsvollen Umgang mit den Realitäten der Gegenwart und Zukunft ermöglichen. Das ist leider eine Sysiphos-Aufgabe, die sich immer wieder von neuem stellt. Der einzige Trost, den ich an dieser Stelle anbieten kann, ist die Erinnerung an den „Mythos von Sysiphos“ von Camus, der schrieb: „Man muss sich Sysiphos als glücklichen Menschen vorstellen.“
Ich selbst möchte mit einem Meme enden, das diesem Artikel auch hätte voranstehen können. Es begegnet mir mit schöner Regelmäßigkeit in LinkedIn-Threads und wird Albert Einstein zugeschrieben, auch wenn niemand je die Quelle dieses angeblichen Einstein-Zitats anführt (Merke: Auch mehrfache Wiederholung macht eine Aussage nicht unbedingt wahr, selbst wenn man einen Nobelpreisträger zitiert!):
Ich freue mich über jede Zustimmung und jeden Widerspruch und ganz besonders über dritte Positionen, die ein weder noch oder ein sowohl als auch anbieten. Und frage:
- Welche Literatur findet ihr hilfreich?
- Wie begegnet ihr Komplexität und Paradoxien?
- Und geht „anders wirtschaften“ ohne wirtschaften?
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Lieblingsbuch Nr. 1
„Don Quijote“ von Miguel de Cervantes (in der Übersetzung von Susanne Langer)
Hier lernt man mehr über über Konstruktivismus, speziell die soziale Konstruktion von Wirklichkeit und Purpose, als in jedem New Work Buch. Darüber hinaus erfährt man alles über Haltung, Werte und Resilienz, Themen also, die mitten im Zeitgeist stehen.
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Lieblingsbuch Nr. 2
„Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil
Hier lernt man über Change Management, das Aufspannen von Möglichkeitsräumen und so manches über gelungenen Dialog (aber auch über solche, die scheitern). Zudem ist es ein Fragment, was der Flüchtigkeit und Ambiguität der VUCA- Welt Ausdruck verleiht.
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Lieblingsbuch Nr. 3
„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust
Auch wenn der Titel anderes suggeriert, geht es hier nicht um Zeitmanagement. Stattdessen ist es wohl eines der besten Bücher über Wahrnehmung und Gedächtnis.
Matthias Steinke ist Organisationsentwickler bei Bechler Kollaborationsberatung mit den Schwerpunkten Zusammenarbeit, Führung und Veränderungsmanagement. Er lehrt an der University of Europe for Applied Sciences die Themen Corporate Management, Management Consulting und Digital Transformation. Matthias ist Schlagzeuger, liebt Literatur, Philosophie und Neurowissenschaften und ist Gründungsmitglied des Magazins für Fotografie und Wahrnehmung Re-Vue.