»Sorgt Euch! …Und hört auf, Euch zu vereinbaren.«

  • 21.11.2023
  • von Gastautor*in
  • Lesezeit: 10 Minuten
Vereinbarkeit ist die Lösung! Wirklich? Ein kritischer Blick auf die aktuelle Vereinbarkeitsdebatte. Und ein Appell für mehr Care ...
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Erwerbsarbeit und Care-Arbeit konkurrieren um die knappe Ressource Zeit. Es ist ein Erbe der Industrialisierung, dass produktiver (Erwerbs-)Arbeit ein höherer Wert beigemessen wird als reproduktiver Sorge-(Arbeit). Dieses Über- Unterordnungsverhältnis stabilisiert und manifestiert gleichermaßen unsere kapitalistische Wirtschaftsordnung wie auch die noch überwiegend patriarchalen Gesellschaftsstrukturen.

Die (vermeintliche) Lösung für dieses Spannungsverhältnis zwischen Care und Erwerb lautet seit einigen Jahren Vereinbarkeit. Vereinbarkeit als Allheilmittel für Gender Gaps, den demografischen Wandel, Fachkräftemangel… Wir bezweifeln das!

Das Problem mit der Vereinbarkeit ist das Vereinbaren selbst. Schon der Begriff lässt auf ein systematisches Defizit schließen: Vereinbaren muss man, was nicht zueinander passt. Vereinbarkeit versucht eine Klammer um den Widerspruch zu setzen: „Karriere trotz Kinder“, „Führung trotz Familie“, „Elternzeit trotz Erwerbsarbeit“. Vereinbarkeit bleibt damit immer eine bequeme Lösung und gleichsam entlarvend: Denn die unbequeme Wahrheit, dass Care Arbeit die heimliche und nicht oder viel zu wenig honorierte Stütze unserer Wirtschaft ist, wird nicht ausgesprochen; das patriarchale Über- und Unterordnungsverhältnis von Care- und Erwerb nicht in Frage gestellt. Vereinbarkeit ist das Feigenblatt, um eine Herrschaftsordnung, die Effizienz und Leistungssteigerung zum Prinzip erhoben hat, aufrechtzuerhalten. Anders formuliert: Die gebärende Mutter, der sorgende Vater, die pflegenden Kinder passen nicht in das System von Arbeit, in dem nur die Erwerbsarbeit als produktiv angesehen wird.

Illustration: Karen Schmidt

Damit besteht zumindest das Risiko, dass Vereinbarkeit die existierende Über- und Unterordnung stabilisiert, da Vereinbarkeitsinstrumente versuchen, innerhalb des Systems zu optimieren, anstatt das Nebeneinander von Erwerb und Care als Ganzes neu zu denken. Diese kühne Behauptung wollen wir im Folgenden anhand von drei Thesen untermauern. Unsere Thesen sind bewusst spitz formuliert, da wir überzeugt sind, dass es einen radikalen Perspektivwechsel braucht, um ausgetretene Denkpfade zu verlassen.

Im letzten Abschnitt plädieren wir für eine care-sensible Wirtschaft, in der Care eine Bedeutung und einen Wert hat, und kein störender Faktor ist, der wegoptimiert werden muss.

Vereinbarkeit entwertet Care

In der modernen Gesellschaft ist die Antwort auf Zeitmangel ein stetig wachsendes Dienstleistungsangebot: Vom schmutzigen Hemd über Lieferservices für Essen bis zum kranken Kind wird ein Fürsorgekonsum etabliert, der Care nicht nur ökonomisiert, sondern auch kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse fortschreibt. Für die weniger anerkannte Care-Arbeit werden schlecht qualifizierte Arbeitskräfte, Mütter aus Osteuropa oder gelangweilte Omis angeheuert, damit gut ausgebildete Eltern ihrer höherwertigen Erwerbstätigkeit trotz krankem Kind nachgehen können. Damit wird das Über- und Unterordnungsverhältnis manifestiert; die Geringschätzung von Care aufrechterhalten. Zugespitzt: Care ist es nicht wert, die Erwerbsarbeit zu unterbrechen.

Wir alle, die wir uns von Care freikaufen, unterstützen das Prinzip patriarchaler Ordnung: Das Prinzip der Externalisierung von Verantwortung und Kosten. Denn die wahren (Folge-)Kosten für die Fürsorgedienstleistungen tragen die lobbylosen gesellschaftlichen Schichten. Wo bleibt der Aufschrei, wenn Philippininnen Ihre eigenen Familien zurücklassen, um hierzulande 24/7-Pflege zu Hause anbieten? Wie kann es sein, dass in Berlin hunderte Inder Essen an deutsche Haustüren liefern – ohne Arbeitnehmer*innenschutz, ohne ausreichenden Unfallschutz? Warum ist es gesellschaftlich akzeptiert, dass systemrelevanten Jobs im Niedriglohnbereich besonders häufig von Migrant*innen ausgeübt werden? Die Globalisierung von Betreuungs- und Care-Aufgaben, die so genannte global care chain setzt das kapitalistische Prinzip der Über- und Unterordnung fort, produziert ein Care-Prekariat und ist letztlich eine Aussage darüber, welchen Wert wir Care als Gesellschaft zuschreiben.

Vereinbarkeit manifestiert ein altes Familienmodell

Das Konzept Vereinbarkeit ist gestartet mit dem Anspruch, Müttern das zeitgleiche Nebeneinander von Erwerbstätigkeit und Kinderbetreuung zu ermöglichen. Von der Realität überholt, hat sich die Vereinbarkeitsdebatte schon lange ausgeweitet auf Väter, denen umgekehrt eine verbesserte Teilhabe am Familienleben ermöglicht werden sollte, auf Menschen, die sich um pflegende Angehörige kümmern. Dabei merken wir: Solange das Konzept von Vereinbarkeit auf einer heteronormativen Idee von Fürsorge beruht, läuft es der Realität einer sich entwickelnden Gesellschaft immer hinterher.

Fürsorge hat viele Facetten, Familienbilder diversifizieren sich. Eine sorgende und fürsorgende Gesellschaft braucht alle Facetten des “sich umeinander Kümmerns” und sie muss alle möglichen Lebensentwürfe in den Blick nehmen.

Care statt Vereinbarkeit würde bedeuten, dass wir nicht nur von heteronormativen Familienmodellen ausgehend, Lösungen für die Fürsorge von Kindern und zu pflegende Angehörigen anbieten. Die Anerkennung von Care als Voraussetzung dafür, dass Erwerb und Gesellschaft überhaupt möglich sind, beschreibt vielfältige Formen von Tätigkeiten, die dem Gemeinwohl, der Gemeinschaft, dem Miteinander und dem Planeten dienen: vom Ehrenamt im Sportverein, über das politische Engagement in einer Bewegung bis hin zu einer bewussten Selbstfürsorge.

Erwerbsarbeit ist in dieser Perspektive Tätigkeit, die dem Menschen genau das ermöglicht: Menschsein und es ihm nicht aufgrund der Allgegenwart und Vorherrschaft von Erwerb verunmöglicht, weil sie den Kampf um das knappe Gut Zeit stets gewinnt.

Vereinbarkeit erschöpft

Vereinbarkeit bietet Flexibilisierungsmöglichkeiten und hebt an vielen Stellen die zeitliche und räumliche Trennung der beiden Sphären Erwerb und Care auf. Eltern im Homeoffice mit flexiblen Arbeitszeiten machen nebenher alles andere auch noch: waschen, putzen, Schulaufgaben begleiten, Arzttermine organisieren, Geburtstage vorbereiten… Mit der Flexibilisierung erhält die Erwerbsarbeit Einzug in unsere privaten Räume und unsere private Zeit – und umgekehrt: Unsere Smartphones sind permanent eingeschaltet und so nehmen wir einen Großteil unseres Privatlebens auch täglich mit zur Arbeit. Private Telefonate, Social Media und Online Shopping sind an vielen Orten anerkannter Teil der Arbeitszeit. Was bleibt, wenn die Sphären Erwerb und Care zeitlich und räumlich immer näher zusammenrücken, ist das Gefühl der permanenten Konkurrenz zwischen ihnen. Was uns hier wie dort fehlt, ist: Fokus. Achtsamkeit. Aber auch Pausen und Unterbrechungen, die einen Übergang von der einen Welt in die andere markieren können.

Durch die permanente Gleichzeitigkeit entsteht ein ständiger Entscheidungs- und Handlungsdruck (Mental Load), Zeit wird immer dichter, Erholung immer unwahrscheinlicher. Vereinbarkeit ist für all das weder ursächlich noch hauptverantwortlich. Als Konzept an der Schnittstelle Wirtschaft, Gesellschaft, Politik nimmt es jedoch eine erhebliche Steuerungsfunktion ein. Deshalb ist es sinnvoll, die Frage zu stellen, inwiefern Vereinbarkeit die richtige Antwort ist, um ein gesundes und gleichberechtigtes Nebeneinander von Care und Erwerb tatsächlich zu ermöglichen, oder ob wir nicht eher Gefahr laufen, die beschriebene Erschöpfungsspirale gleichsam durch die Hintertür zu verstärken.

Illustration: Karen Schmidt

Wie kann es anders gehen?

Um Missverständnisse zu vermeiden: Vereinbarkeit hat ihre guten Seiten. Und sie stammt aus einer Zeit, in der es darum ging, Frauen eine eigene berufliche und wirtschaftliche Existenz zu ermöglichen. Allerdings bleibt die Debatte um Vereinbarkeit viel zu häufig – das haben wir anhand der Thesen dargestellt – in einer Perspektive stecken, die das Über- und Unterordnungsprinzip von Erwerb und Care fortschreibt.
Wenn Vereinbarkeitsinstrumente nicht unsere Probleme lösen und wenn Vereinbarkeit potenziell stabilisierend für ein nicht-zukunftsfähiges System wirkt – was ist dann die Lösung? Wir appellieren, den Blick zu weiten: Wenn wir ein gleichberechtigtes Nebeneinander von Erwerb und Care nachhaltig und für alle – nicht nur für Eltern – ermöglichen wollen, dann ist die relevante Frage nicht länger: Wie geht beides? Die Frage, die wir stellen müssen, lautet vielmehr: Was ist das gute Leben?

Das gute Leben wird heute maßgeblich von Kriterien bestimmt, die das Erwerbssystem selbst produziert. Leistung und Erfolg – und der ökonomische Gegenwert dazu – finden Anerkennung und Wertschätzung. Wohlstand ist damit vor allem materieller Wohlstand. Doch was wäre, wenn wir ein Wohlstandsverständnis zugrunde legen, das sich nicht ausschließlich aus der Sphäre Erwerb speist, sondern auch einen Wohlstand beschreibt, der in der Sphäre der Care-Arbeit produziert wird? Ein Wohlstand also, der entsteht, weil wir Zeit haben, um Beziehungen zu pflegen, Zeit für Begegnungen, Zeit, um uns zu engagieren für Menschen, für die Welt und für die Umwelt? Das Ergebnis wäre ein Begriff von (Zeit-)Wohlstand, der das ins Zentrum rückt, was uns im Kern als Menschen ausmacht: Die Sorge füreinander.

Was bedeutet das konkret für Unternehmen? Welche Rolle nehmen sie in einer solchen Idee des guten Lebens ein? In unserem Buchprojekt “Sorgt Euch! Neue Perspektiven auf Neue Arbeit” stellen wir Unternehmen vor, die sich genau mit diesen Fragen auseinandersetzen. Was wir jetzt schon wissen: Ein Wohlstandsbegriff, der sich deutlich stärker an Zeit für Sorge ausrichtet, eröffnet in diesen Unternehmen neue Perspektive und Chancen, weil die Leitkriterien und Glaubenssätze unseres heutigen Wirtschaftens mutig in Frage gestellt werden (müssen). Diese Unternehmen finden neue Antworten auf Aspekte wie Arbeitszeit, Eigentümerstrukturen, die Folgekosten des eigenen wirtschaftlichen Handelns, Wohlergehen und Gesundheit der Belegschaft, Selbstwirksamkeit und Führung und schließlich auch auf die Gretchen-Fragen: die Frage nach dem Wachstum. Wir bezeichnen diese Unternehmen als care-sensibel, weil sie in ihrer Ausrichtung und ihrem Handeln beide Teile des “ökonomischen Zwillings” (vgl. Biesecker 2010), Care-Arbeit und Erwerbsarbeit, wieder zusammenführen. Sie rücken Fürsorge und damit Verantwortung für ihr wirtschaftliches Handeln ins Zentrum. Denn das ist es, was Care im Kern ist: Verantwortung für die Beziehungen zu uns, zu Dritten und zur Welt. In solchen Unternehmen müssen wir uns nicht länger vereinbaren. In solchen Unternehmen tragen alle (Für-)Sorge.

Auf diese Autor*innen und Werke haben wir uns bezogen:

Biesecker, Adelheid (2010): Eine zukunftsfähige Ökonomie ist möglich – Vorsorgendes Wirtschaften.

Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung “Postwachstumökonomie” an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg. (abgerufen am 1.11.2023)

Dr. Esther Konieczny befähigt als selbständige Beraterin Menschen und Organisationen im digitalen Dauerrauschen als bestehen zu können. Als Aktivistin engagiert sie sich für alleinerziehende Eltern und für ein vielfältiges Familienbild. Mit Gleichgesinnten organisiert sie Demos und Kampagnen, um Kinder- und Mütterarmut zu bekämpfen.

Lena Stoßberger berät und begleitet Organisationen und Menschen auf ihrem Weg zu organisationaler und psychischer Gesundheit. Als alleinerziehende Mutter mitten in München hat sie ihre Erfahrungen mit dem täglichen Nebeneinander von Kind und Karriere  gemacht. Grund genug, work und care neu zu denken.

Neben ihrem gemeinsamen Buchprojekt beraten Lena und Esther Unternehmen und Organisationen in der Einführung der 4-Tage-Woche. Mehr Informationen hierzu und zu ihren Projekten auf ihrer Homepage.

Und: Karen Schmidt begleitet als Illustratorin die Projekte von Esther und Lena mit künstlerischen Impulsen. In ihren zeichnerischen Arbeiten beschäftigt sich die Münchnerin mit den alltäglichen kleinen und großen Momenten des (Mensch)Seins.

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