»Arbeit & Ethik«
Murat war für zweieinhalb Monate in Lesbos, um dort im Flüchtlingslager Moria und im Norden als Fotograf zu dokumentieren, wie die Flüchtlinge ankommen und dort leben. Wir sprachen mit ihm über Ethik in der Arbeit und Arbeit als Grenzüberschreitung.
Lieber Murat, wie ist es dazu gekommen, dass du in Lesbos gelandet bist?
Ich arbeite seit 32 Jahren als freier Fotojournalist. Als im August 1988 irakische Hubschrauber bei der Anfal-Operation die Kurden mit Giftgas angegriffen haben, flohen die Menschen aus dem Nordirak in die Türkei. Zu der Zeit befand ich mich in der Region für eine GEO-Reportage. Für mich war klar, dass ich meinen eigentlichen Auftrag hinten anstelle, um dieses historische Ereignis mit den Geflüchteten in der unzugänglichen Bergregion zu dokumentieren.
Seitdem haben mich die Schicksale der Menschen, die aus verschiedensten schwerwiegenden Gründen ihre Heimat durch Flucht verlassen, interessiert. Meist geschieht es im Verborgenen wie bei den Tibetern, die über die Berge des Himalayas nach Indien fliehen. In den Bergen sterben einige bei der Flucht den kalten Tod.
Als im November 2015 der Vertrag zwischen der EU und der Türkei besiegelt wurde, war mir bewusst, dass hier eine neue Ebene von Menschenhandel politisch abgewickelt wurde. Mit schwerwiegenden Folgen für die Geflüchteten. Vom Dezember 2015 war ich als Fotojournalist auf der Fluchtroute über die Türkei nach Europa unterwegs. Mehr als sechs Monate habe ich in 2016 die wichtigsten Orte entlang der Fluchtroute in Chios, Lesbos, Athen, Idomeni und später in den Lagern um Thessaloniki herum fotografiert und gefilmt.
Immer mehr fahre ich ohne Aufträge los, weil der Entscheidungsprozess in den Printmedien ungewiss ist. Es fehlt an Entscheidungsfreudigkeit, so bin ich gezwungen, oft mit eigenen Mitteln zu arbeiten. Im Umkehrschluss bedeutet das unabhängiges Arbeiten, um zeitnah das Elend der Flüchtenden und Versagen der EU als Zeitzeuge zu visualisieren und dokumentieren. Es widerspricht meiner inneren Haltung und meinen menschlichen Werten, die ich als Europäer gelernt habe und vertrete, wie sich Europa in dieser Krise verhält.
Ich verfolge die Entwicklung der „Flüchtlingskrise“ in Europa und Griechenland seit 2015 sehr genau. Ich kenne die Regionen, Land und Leute. Die orientalische Kultur und ihre Religionen sind mir sehr vertraut. In den letzten Jahren kamen immer mehr Geflüchtete in der Türkei an, mit dem Ziel, weiter nach Europa zu gelangen. Es braucht nicht viel, um zu erahnen, welch schreckliches und unmenschliches Leid sich dort anbahnt.
Gleichzeitig haben die EU und Griechenland beschlossen, keine weiteren Flüchtenden in Europa aufzunehmen. Aus Angst, dass die rechtsextremen politischen Lager und Populisten die pluralen Demokratien wegputzen. Deshalb hat man zur Abschreckung die Flüchtlinge in Moria und den anderen Hotspots auf den Nordägäischen Inseln gelassen. In der Hoffnung, dass weniger Boote an der europäischen Küste anlanden.
Die Menschenschmuggler und die Menschen, die auf der Flucht nach Europa sind, hat diese Politik nicht abgeschreckt. Sie wird sie auch in Zukunft nicht abschrecken.
Diese Menschen fliehen vor Kriegen, gewaltsamen Unruhen, Bürgerkriegen, Rassismus oder Verfolgung. Aus Regionen, die von Kriegen so zerstört sind, dass man nicht sicher dort leben kann. Sie wollen, wie wir alle, in Frieden und Ruhe leben. Sie wollen Bildung und eine bessere Perspektive für ihre Kinder.
Die Hotspots auf den griechischen Inseln sind seit Jahren so überfüllt, so elend. Das sind genügend Gründe hinzugehen und genau hinzuschauen, was da passiert. Tagtäglich verletzen die Europäische Union und Griechenland nach der UN Kinderrechtskonvention die Rechte der Kinder, wenn man weiß, dass im Lager mindestens 34 Prozent, ein Drittel von 21.000 Menschen, Kinder unter 12 Jahren sind.
Welches Selbstverständnis hast du als Fotograf?
Wenn ich Menschen im größten Elend fotografiere, ist mein Selbstverständnis, dass ich meinem Gegenüber sensibel, authentisch und ehrlich begegne. Meine ganze Aufmerksamkeit richtet sich nicht nur auf die Hauptperson, die ich fotografiere, sie richtet sich auf das Geschehen und die Menschen um uns herum. Diese Aufmerksamkeit gilt dem gesamten Umfeld, gerade wenn viele Menschen auf engstem Raum wie in einem Flüchtlingslager leben. Alle meine Sinne arbeiten auf Hochtouren.
Ein Beispiel hierfür ist zu beachten, dass die Situation, wenn ich eine bestimmte Person intensiv beobachte und fotografiere, sehr wohl im Umfeld registriert wird. Die Zeltnachbarn sind genauso zu beachten. Es gibt soziale Kontrollen, Neid und Regeln um diese Menschen herum. Sie werden in diesem Umfeld weiterleben, wenn ich wieder weg bin. Entsprechend habe ich mich verantwortungsvoll und mit Einfühlungsvermögen vor Ort zu verhalten.
Gleichzeitig darf ich die Kontrolle über die Situation und meinem Ziel, ein besonderes Foto zu fotografieren, nicht verlieren. Andere dürfen nicht bestimmen, was ich zu fotografieren habe. Dafür braucht es Zeit, gegenseitiges Vertrauen und Respekt. Es gibt Momente, da legt man die Kamera einfach weg und ist ganz nur Mensch unter Menschen.
Wenn ich wieder zurückkomme, zu denen, die ich in diesem Elend kennengelernt habe, und diese Menschen mich herzlich begrüßen und sich über mich freuen, dann habe ich zumindest nicht viel falsch gemacht.
Zu meinen Selbstverständnis als Fotograf gehört auch, dass ich ohne bestimmte Vorstellungen und Erwartungen zum Fotografieren rausgehe. Es gibt kein schlechtes Licht. Keine schlechte Situation.
Bei allem habe richte ich mich nach einem meiner Vorbilder, dem englischen Fotografen Don Mccullin, den ich hier zitieren möchte: „Egal, welche Gelegenheit sich auch ergeben, man muss immer sicherstellen, dass man die Aufnahmen auch mit seinem Gewissen vereinbaren kann.“
Fühlst du eine ethische Verpflichtung, die Situation in Moria sichtbar zu machen?
Es ist eine freie Entscheidung dort hin zu gehen und dort zu fotografieren. Ich glaube nicht, wenn man das aus der Verpflichtung heraus macht, das dann was Gutes dabei herauskommt. Es braucht viel an Leidenschaft und Hingabe. Einen starken Willen, sich gegen alle Widrigkeiten durchzusetzen und das auf eigenes Risiko. Der Antrieb kommt aus der Wut, bzw. dass es mich schmerzt, zu sehen, das hier Menschen, viele sind Kinder und Jugendliche, unnötig zu leiden haben. Wunderbare Menschen. Mein Sohn ist 16 Jahre alt. Wie würde ich mich als Vater verhalten, wenn er gewaltsam in eine Armee eingezogen würde? Oder als Kämpfer für eine Terrorgruppe aus der Familie gerissen wird? Was würde ich meinem Sohn für eine Zukunft wünschen, wenn er studieren möchte und es nicht möglich ist?
Wir betrachten oft die Welt viel zu sehr aus der „Ich“ Perspektive, aus einem sehr egozentrischen Blickwinkel, urteilen aus dieser Perspektive und schauen uns die Welt aus der Mitte unseres Lebens an. Um zukünftige Lösungen für Krisen und Probleme zu finden, ist es nötig, die Standpunkte zu wechseln. Wenn wir die Ursachen in den Ländern nicht zufriedenstellend lösen, werden die Menschen dort nicht bleiben wollen. Keiner von uns möchte in Angst, Bedrohung, Hunger und Elend leben.
Ich mag keine Ungerechtigkeiten und das, was in Moria und in den Lagern geschieht, ist brutal und menschenverachtend. Wir Europäer können das viel besser bewerkstelligen. Sonst verlieren wir jeglichen Anspruch, anderen Ländern vorzugeben, wie sie sich zu verhalten haben. Wenn Europa nicht auf die Menschenrechte pocht, sie umsetzt, dann wird die Welt wieder in eine barbarische Welt zurück fallen.
Ich bin da zu realistisch und glaube, dass wir im Augenblick alles an kulturellen Errungenschaften der Neuzeit nicht in das 21. Jahrhundert hinüberretten werden. Es sei denn, wir besinnen uns eines besseren und kämpfen dafür. Ob für Menschenrechte oder für ein neues nachhaltiges Wirtschaften in der Welt, wie es Fridays for Future fordert. Ich sehe zwischen diesen beiden Themen eine klare Verbindung. Die Kriege entstehen durch Ansprüche an Macht und Ressourcen. Verteilungskämpfe über bewirtschaftbares Land. Der Stärkere vertreibt oder tötet den Schwachen. Menschen werden dadurch gezwungen zu fliehen. Die Klimaveränderungen treffen jeden, den Bauern in Afghanistan genauso, wie die Menschen in Afrika oder in Europa. Wenn die Ernten weniger werden, weckt es Begehrlichkeiten und schon ist es ein leichtes Religionen und Ethnien gegeneinander auszuspielen, um nur ein Beispiel zu nennen.
Wenn ich das alles weiß, und das kann ich mir Heute alles anlesen, kann jeder seine Aufgabe finden, die Welt ein Stück schöner, friedlicher und liebevoller zu gestalten. Sie ist die einzige die wir haben und sie ist wundervoll. Es liegt an uns, einen Beitrag zu leisten unser Zusammenleben friedlicher zu gestalten. Ich kann fotografieren und Geschichten erzählen, deshalb setze ich das ein und berichte aus Moria, das ist mein Beitrag. Ich wünsche mir, dass viele Menschen diese Fotos und Berichte sehen und sie in Schwingungen bringt, dass bei ihnen was angestoßen wird und sich zum Guten verändert, zumindest Verständnis aufbringt und die Angst vor den „fremden“ Menschen nimmt.
Ist dein Arbeiten auf Lesbos eine konsequente Weiterführung deines bisherigen Lebens-Laufes?
Mein Leben ändert sich nicht, wenn ich in Krisen- oder Katastrophenregionen unterwegs bin. Ich weiß nur zu schätzen, was ich hier zu Hause in Deutschland an Wohlstand habe. Fließend heißes Wasser aus der Leitung. Mein eigenes Bad. Frieden und eine Freiheit, die es sonst kaum wo gibt. Dankbar zu sein. Dieses wertzuschätzen und dafür zu kämpfen. Das fängt hier zuhause an bei Fridays for Future und hört dort auf, wo wir Despoten und Kriege unterstützen. Ich bin Fotograf und Journalist, Geschichtenerzähler, Mann, Vater. Die Reihenfolge ist flexibel veränderbar.
Wie sehen deine Tage aktuell aus?
Nach zweieinhalb Monaten Abwesenheit von Berlin: Reorganisation meines Alltags. Der einzige Unterschied zu meiner Zeit in Lesbos ist der, dass ich jetzt weniger bis gar nicht fotografiere. Ich sitze ständig zu Hause am Rechner, editiere, bearbeite und beschrifte meine Fotos. Viel lieber würde ich weiter fotografieren. Ohne diese letzte Arbeit über die Geflüchteten abgeschlossen zu haben, macht es wenig Sinn, sich in ein neues Thema wie Covid-19 und den Konsequenzen für die Gesellschaft einzulassen. In den nächsten Tagen werde ich aber rausgehen und fotografieren. Ich brauche die Abwechslung. Es gibt genug zu tun: meine Webseite aktualisieren, Redaktionen kontaktieren oder die Reisekosten-Abrechnung machen, wenn ich zwischen Hausarbeit, wie Wäsche waschen und kochen noch Zeit dazu finde.
Gleichzeitig kommuniziere ich ständig mit einigen Geflüchteten in Moria, in Ritsona und anderen Lagern. Ich organisiere gerade ein Medienteam, das aus den Lagern berichten kann. Es ist besonders wichtig, auf die Geflüchteten zu bauen, ihnen ihre Eigenständigkeit zu lassen. Sie können einen Weg finden, sich auszudrücken. Ob mit Fotos, Videos oder Texten.
Dann gibt es Anfragen für Fotos, die ich beantworte und beliefere. Es gibt verschiedene Projekte über das Thema Flucht und Geflüchtete. Aktuell laufen drei gleichzeitig, in unterschiedlichen Stadien. Das Telefon steht nicht mehr still. Ich muss es hin und wieder weit weglegen, damit ich mich auf eine Arbeit konzentrieren kann. Spät in der Nacht lege ich mich dann zum Schlafen hin. Langweilig wird es mir nicht. Ganz im Gegenteil.
Die Zeit drängt, die Flüchtlinge sind in einer schrecklichen ungewissen Situation. Ich persönlich wäre bestimmt um einiges entspannter, wenn diese unsäglichen Lager nicht mehr existieren würden. Wenn diese Menschen auf der Flucht in guten und sauberen Unterkünften anständig versorgt würden und zur Ruhe kämen.
Wie sehr bist du Teil des Flüchtlingslagers und dessen Bewohner geworden?
Ein Teil des Flüchtlingslagers bin ich nicht geworden! Ich konnte jederzeit raus. Was dieses Menschen nicht können. Ich habe mich natürlich eingelebt, habe es mir, sofern ich Zugang bekam, Stück für Stück erschlossen, mir ein Bild gemacht, im sprichwörtlichen Sinne. Am Anfang kratzt man nur an der Oberfläche. Die Geflüchteten haben ihre eigenen Kulturen, je nachdem, aus welchen Ursprungsländern sie kommen. Dazu kommen die einzelnen Schicksale aus ihrer Vergangenheit.
Das ist eine Metaebene, die so vielfältig und meistens sehr schrecklich ist. Alleine die Flucht an sich ist schon ein Monstrum, ein Trauma. Ein 15jähriger Junge aus Afghanistan, der in seinem Heimatdorf den Terror der Taliban erleben musste, hat, wenn er in Lesbos angekommen ist, ca. 5.000 km an gefährlicher Reise hinter sich. Zwei illegale Grenzübertritte auf Land, zu Fuß durchs Gebirge, rasende Fahrten auf der Ladefläche eines Pickups, dichtgedrängt und eingeklemmt für Stunden unter einer Plane, verfolgt von Polizei und Grenzsoldaten. Bedroht von Schleppern, deren Willkür man ausgesetzt ist. Polizeikontrollen, dunkle Verstecke und Schlafplätze auf kalten, nackten Boden. Sie hungern, es ist kalt und unwirklich. Sie wissen nicht mal, wo sie genau sich befinden.
Sie haben über Wochen und Monate keinen Kontakt zu ihren Eltern, bevor sie dann in einer Nacht- und Nebelaktion, unter hektischen Anweisungen, in ein einfaches Schlauchboot mit einem schwachen Außenborder steigen, um über das Ägäische Meer nach Lesbos zu gelangen. Die meisten haben noch nie ein Meer gesehen, geschweige denn, dass sie schwimmen können.
Mir sind in der Zeit die Menschen dort, ob jetzt Flüchtlinge, Mitarbeiter der NGOs, Volunteers und die Einheimischen, immer vertrauter geworden.
Das Lager ist eine sehr konzentrierte Welt, es sammelt sich das ganze Glück und das ganze Elend der Welt in dieser stinkenden Hölle. In einem Zelt freut man sich, ein Meter weiter bricht für einen die Welt zusammen, weil der zweite Asylantrag kommentarlos abgelehnt wurde.
Ich empfand es so, dass das Leid durch Kriege, der ganze Schmerz aus den Heimatländern bis in das Lager weitergetragen wurden. Es ist zu spüren, im Handeln und Denken. Es geht ums nackte Überleben von mehr als 21.000 Menschen auf europäischen Boden.
Mein Privileg ist es, dass ich in die Distanz gehen konnte und mir Zeit zum Reflektieren nehmen durfte. Wäre ich ein Teil des Lagers geworden, ginge das nicht.
Am besten kann ich das mit einem Foto zeigen. Die Flüchtlinge leben über Monate, zum Teil über ein Jahr, in völliger Ungewissheit, was mit ihnen geschehen soll.
In einem Raum, in dem sie aus eigenem Willen weder zurück noch weiter nach vorne gehen können. Sie sind gefangen an einem Ort zwischen Zäunen, Stacheldraht und Meer. Die Situation kann man nicht schönreden, mit Hoffnung oder Glück. Es ist mir gelungen, dieses Gefühl und diesen Zustand zu visualisieren. Das verdanke ich dem Vertrauen der Menschen, die sich über die Zeit mir gegenüber geöffnet haben. Aus diesen sehr persönlichen Gefühlen und Gedanken der Betroffenen, die sie mir erzählten, entstehen diese Fotografien.
Lässt sich sagen, dass sich bei dir die Grenzen zwischen Arbeiten und (privatem) Leben aktuell komplett aufgelöst haben?
Es hat sich aufgelöst, gedanklich ist es kaum auszuschalten. So schwer wiegen die Eindrücke, das Erzählte, diese ganzen persönlichen Geschichten. Ich frage mich jedes Mal: Wie können Menschen nur so grausam sein und anderen Menschen das antun? Eine Erklärung habe ich dafür nicht gefunden. Da ist es wichtig, Abstand nehmen zu können, auszusteigen, ob für Stunden oder Tage. Ich gebe zu, dass das äußerst schwierig ist. Ich lerne jeden Tag mein Privates neu zu definieren und zu bewahren. Mein rein privates Leben, beschränkt sich auf die gemeinsame Zeit mit meinem Sohn, meiner Lebensgefährtin und einigen Freunden.
Es ist nicht möglich, wenn ich als Fotograf das private Leben von einem Menschen aus allernächster Nähe begleite und miterlebe, mein Privatleben unerwähnt zu lassen. Man teilt es einfach mit den Menschen. Was ist Arbeit? Ich spüre mich, in meiner Tätigkeit als Fotograf. Je älter ich geworden bin, desto mehr kam auch die Erkenntnis, dass das Fotografieren, genau das ist, was viele Menschen suchen. Ein Leben im Hier und Jetzt.
Wenn ich fotografiere, bin ich genau mit jeder Sekunde im Jetzt und nirgendwo anders als da, wo ich mich genau aufhalte. Es gibt kein Früher oder Später. Keinen anderen Ort. Ich atme und fotografiere Leben, jetzt. Die stärksten Fotos entstehen genau in dem Moment, in dem ich ganz da und völlig mit der Umgebung verwoben, oder ganz aufgelöst im Geschehen bin. Wenn ich Menschen fotografiere, will ich am liebsten fast unsichtbar sein.
Ich kann im klassischen Sinn meine Tätigkeit als Fotograf nicht als Arbeit bezeichnen. Mein Ziel ist es Zeitdokumente und Fotografien zu erschaffen, die über die Zeit, über Generationen hinweg bestehen können und die von einem hohen künstlerischen Wert sind. Das lässt sich nicht in einen 8-Stunden-Tag pressen. Ich lebe damit mehr oder weniger 24 Stunden. Ist vielleicht nicht so gesund, aber beruflicher Zeitdruck oder Zeitdruck der Ereignisse folgen einem hohen Tempo.
Erst in den letzten Jahren lernte ich, dass es so etwas wie Selbstfürsorge gibt. Kraft schöpfe ich durch Meditieren. „Nein“ sagen zu können. Konzentration auf die Projekte. Schön wäre es, ohne finanziellen Druck arbeiten und leben zu können. Jetzt in Zeiten der Corona-Krise wird es noch eine Spur schwieriger, als Selbstständiger kreativ zu bleiben. Es sind sehr große Herausforderungen, vor denen wir alle stehen.
Glaubst du, dass jeder Mensch die Verpflichtung dazu hat, sein berufliches Handeln aus einer ethischen Perspektive zu betrachten?
Ich kann nicht für andere sprechen. Für mich persönlich sind die ethischen Perspektiven ein Teil meiner Arbeit. Ich würde es sehr begrüßen, wenn berufliches Handeln sich an Nachhaltigkeit, Umwelt, Tierschutz, Menschlichkeit und Freude orientiert und nicht an Umsatzsteigerung, Gewinnmaximierung und wirtschaftlicher Ausbeutung. Die Realität ist weit davon entfernt.
Was können wir jetzt tun, um etwas gegen die Zustände in Moria zu tun?
Druck auf die Entscheidungsträger in den Hauptstädten und in Brüssel machen. Sich gut informieren, um die richtigen Argumente zu haben.
Das Elend publik machen. In Moria herrscht eine Krätze-Epidemie und die Menschen sind ihr dort völlig ausgeliefert, ebenso der Pandemie. Die verantwortliche griechische Regierung tut überhaupt nichts dagegen. Sie und die EU lassen diese Menschen wissentlich leiden. Ich nenne so etwas puren Sadismus.
Die unbegleiteten Minderjährigen (bis 18 Jahren), die Kinder mit ihren Familien, Behinderte und Kranke müssen sofort aus diesen Hotspots auf den griechischen Inseln rausgeholt werden. Es wird jetzt viel schwieriger, weil wir durch die aktuelle Pandemie noch ganz viele traurige Geschichten weltweit zu sehen und zu hören bekommen. Da werden Moria und die anderen Lager medial von diesen Geschichten überrollt und vergessen. Ich hoffe, dass die Pandemie dort nicht ausbricht. Moria und die anderen Flüchtlingslager dürfen jetzt nicht in Vergessenheit geraten.
Die überfüllten Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln und die Pandemie sind ein harter Prüfstein für eine freiheitliche, plurale und demokratische Gesellschaft. Wir sollten für die Werte einstehen, die Europa ausmachen.