»denken hilft…«

  • 16.12.2020
  • von Gastautor*in
In der neuen Serie „Denken hilft – einfache Fragen auf schwierige Antworten“ widmen sich Philosoph Manuel Scheidegger und Sketchnoterin Tanja Wehr einem Thema. Diesmal: Transformation ...
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An dieser Stelle präsentiert uns Philosoph Manuel Scheidegger, der Teil unserer Les Enfants Terribles-Community ist, „einfache Fragen auf schwierige Antworten“ und dazu eine Sketch_o_sophy von Sketchnoterin Tanja Wehr. Das Ganze wird eine kleine Reihe von philosophischen Texten. Dieses Mal zum Thema: Transformation.

Warum Ovid hilfreich ist, Unternehmen in die Zukunft zu bringen

2020 war „natürlich“ ein Seuchenjahr. Und da fragt manch eine:r sich vielleicht: Gibt es eigentlich auch gute Viren, also solche, die uns helfen und voranbringen und nicht… naja ihr wisst schon? Ja. Scheint es zu geben. Wer Suchmaschinen nutzt, findet das Stichwort Phagentherapie, eine Art Co-Working von Menschen und Viren: Intelligente Viren fressen Bakterien, die für uns schädlich sind. Das ist ziemlich bahnbrechend, weil es möglicherweise zukünftig einen Ausweg aus der Antibiotikaresistenz eröffnen wird. Und es zeigt: Trau keiner Weltsicht, die du nicht selbst verzerrt hast.

Womit wir beim Thema der ersten Episode wären. Wie kaum ein anderes Jahr hat uns dieses Wandel beschert. Ein kleines Virus genügt, und alles bleibt anders. Transformation ist mehr denn je das nicht mehr ganz so alte Schlagwort der Stunde. Wenn alles sich wandelt, muss man sich eben mitwandeln. Das ist eigentlich ein kluger Gedanke. Aber findet er denn statt? Und wie tut er das?

Transformation klingt nach Transformers und seien wir ehrlich, deren Wandlungsspektrum ist nicht gerade groß. In Transformation, auch wenn sie oft auf kreative, offene, hierarchisch flachere Kulturen zielt, steckt trotz allem die Idee linearer Entwicklung, Baupläne, klare Strukturen, … bis zur finalen Abwicklung. Mehr militärische Formation statt buntes Trans. Darum schlagen wir vor: transformieren wir uns zur Metamorphose!

„Wie wichtig ist uns, dass unser eigener Name dasteht, die Urheberschaft, wenn wir eine Arbeit erledigen, der Titel, die erfolgreiche Biografie, das weiter vererbbare Haus oder Unternehmen? Warum prägen Karrierenarrative unsere Biografien viel mehr als Erzählungen kollektiver Erfahrungen und Errungenschaften? Beginnt die lineare Sackgasse nicht, wenn wir Bildung am Primat der Leistungen einzelner Individuen ausrichten und sie in Schulen „fit“ für den gesellschaftlichen Wettbewerb machen?“

Wir empfehlen euch auch Manuels Beitrag „Wir müssen lernen, uns im Kreis zu drehen“ auf zeit.de.

Metamorphose ist ein super sexy Begriff aus der Antike. In zahlreichen Mythen und Texten wird die Verwandlungsfähigkeit menschlicher und tierischer Lebewesen opulent inszeniert und gefeiert. Bei Ovid in der berühmten Rede des Pythagoras ist die Benchmark aller Reflexion zu finden:

„Wie das geschmeidige Wachs sich formt zu neuen Gestalten / und nicht bleibt, wie es war, dieselbe Form nicht bewahrt und / doch dasselbe bleibt, so ist, wie ich lehre, die Seele / stets dieselbe, doch geht in verschiedene Formen sie über.“

Chief Metamorphose Officers geben sich also lustvoll und freudig dem Gestaltenwandel hin. Sie kennen keinen fixen Ziel-Zustand, verwandeln sich aus Prinzip und angstfrei und wechseln flexibel auch mal wieder zurück, wenn nötig, sinnvoll oder lustig. – Das ist ziemlich modern. Denn es heißt: Nicht am Plan festklammern, an der einen Idee, am Markenkern oder der festgestampften Strategie für die nächsten drei Jahre. Braucht keiner. Es geht auch ohne. Nicht transformen, sondern performen!

Metamorphotische Unternehmen sind in der Lage, sich flexibel wie Wachs an Gegebenheiten anzuschmiegen, sie wollen nicht in Form bleiben, denken nicht in Formationen und finden Information genauso wichtig wie Inspiration. Statt groß zu erzählen, wer sie sind, zeigen sie, dass, was und wie sie es machen. Für solche Unternehmen zählen Prozesse mehr als Eigenschaften, Verben mehr als Substantive, Teilen mehr als Besitz und menschliche Werte mehr als Bilanzwerte. Kaum ein Unternehmen heute denkt nicht, es bräuchte eine stabile Identität und bleibende Marktposition. Und es gehört zu den Schrecken des Kapitalismus, dass das Wort Existenzangst für Menschen benutzt wird, statt für Unternehmen.

Aber können Unternehmen nicht ruhig existenzängstlicher werden? Können sie nicht einfach einsehen: Alles wandelt sich, nichts vergeht? Dieses Jahr erinnert uns: Wenn wir unsere Arbeit und existentielle Sicherheiten verlieren, brauchen wir alle Unterstützung der Gemeinschaft. In Form von staatlichen Investitionsprogrammen, Subventionen, Ausfallzahlungen oder am besten einem bedingungslosen Grundeinkommen, dessen Diskussion in den nächsten Jahren endlich einen Schub bekommen wird. Die entscheidende Frage der Wirtschaftspolitik der Zukunft könnte lauten: Sollen wir juristische Personen schützen oder die Fähigkeiten, Ideen und Energien der Persönlichkeiten, die darin arbeiten?

Der Kern von Unternehmen sind wandelbare Gebilde. Sie bestehen aus Prozessen, die in anderer Gestalt fortgesetzt werden, wenn wir es unterstützen. Keine Angst vor Metamorphosen. Liebe Manager:innen, lest Ovid und wandelt euch!

Die Rede des Pythagoras aus Ovid´s Metamorphosen, in der die Figur des Pythagoras unter anderem auch ein feuriges Plädoyer für eine vegetarische Ernährung hält könnt ihr hier nachlesen.


Enfant Terrible Manuel Scheidegger studierte Philosophie und Szenische Künste in Berlin und Hildesheim. Er arbeitete unter anderem in der Werbung und am Theater, außerdem war er Co-Gründer eines Startups für Digital Storytelling. Mit seinem Unternehmen Argumented Reality inszeniert er Events und Workshops zu Themen wie KI, Innovationskulturen, Nachhaltigkeit, Strategie oder Diversität – für andere Unternehmen, Organisationen und die Öffentlichkeit.

Tanja Wehr – Sketchnotelovers – ist mit voller Leidenschaft Sketchnoterin, Illustratorin und Bestsellerautorin mit geisteswissenschaftlichem Hintergrund. Am liebsten hilft sie, komplexe Sachverhalte verständlicher und Wissen zugänglicher zu machen und mehr Freude am Lernen zu kreieren. Sie bringt in Workshops Menschen visuelle Methoden bei und organisiert das Sketchnote Barcamp Deutschland und die WissVibes, das Barcamp rund um Wissensvermittlung. Sie liebt guten Kaffee und lässt für ein schönes Notizbuch jedes Paar Schuhe stehen.

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