»Es ist kein Kartenhaus mehr!«
Liebes „Top-Management“!
Wenn ihr den Eindruck habt, dass ihr den Überblick verloren habt, dass trotz vieler Steuerung und immer wieder mal neuer Methoden der Optimierungsversuch nicht klappt oder eher schwächt, dann kann ich euch beruhigen: Euer Unternehmen ist nicht kaputt. Ihr müsst es nicht reparieren. Es ist nur die Steuerung ungeeignet. Bleibt in Kontakt mit euren MitarbeiterInnen. Nutzt das Gegenwissen der Peripherie, lasst die Talente Probleme lösen, hört auf mit den vielen Vorgaben und Kontrollen. Es sind so viele hoch engagierte Menschen, die ihr Bestes geben, MitgestalterInnen verbunden mit dem Kern und Sinn der Organisation. Wenn schwierige Situationen nicht zu „eurer Zufriedenheit“ gemeistert werden, hört zu und beobachtet. Unterlasst alt-eingeübtes und vorschnelles Analysieren oder Verurteilen oder Steuern. Es sind nicht die Menschen, die versagen, sondern es ist das System. Es betrifft alle. Somit auch euch. Die gute Nachricht: Das kann man anders, neu, lebendiger gestalten. Am besten gemeinsam und Schritt für Schritt.
Ob ich mich jetzt zu sehr „aus dem Fenster“ lehne? Wahrscheinlich, aber „drinnen bleiben“ hilft ja auch nichts.
Eine kleine Wiederholung:
Kompliziertes ist mit ausreichendem Wissen darüber beherrschbar. Mit dem richtigen Wissen ist Kompliziertes vorhersehbar. Kompliziertheit ist also relativ. Kompliziertheit ist ein Maß für Unwissenheit. Sie verschwindet durch Lernen.
Komplexes ist das Maß für die Menge der Überraschungen, mit denen man rechnen muss. Menschen sind komplex. Organisationen sind komplexe Systeme. Märkte sind komplexer denn je. Komplexe Systeme sind für sich und andere eine Kette an Überraschungen. Je größer die Vielfalt, aus der permanent ausgewählt werden muss, umso größer ist die Komplexität eines Systems.
Aus den oben genannten Punkten ergeben sich für die Führung ganz bedeutsame Erkenntnisse: Komplexe Systeme lassen sich zwar beobachten, aber nicht zielgerichtet steuern und auch nicht kontrollieren. Jede Handlung wird ein komplexes System beeinflussen, die Reaktion ist jedoch nicht vorhersehbar. Das liegt daran, dass komplexe Systeme lebendig sind. Sie agieren für sich. Komplexes kann nicht beherrscht werden, auch nicht mit Wissen. Das Lösen von komplexen Problemen muss man können. Das meistern nur Talente.
Die Handlungskette ist das bewusste Bilden und Überprüfen von Hypothesen. Die Vorhersagbarkeit bei komplexen Systemen liegt irgendwo zwischen nicht trivial und unmöglich. Für komplexe Systeme gibt es keine Bedienungsanleitung. Statt Methoden braucht man Komplexithoden.
Kompliziertes braucht etwas anderes als Komplexes. Und es braucht vor allem die Fähigkeit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Sonst erleben wir sehr unbefriedigende Zustände. Je mehr man komplexe, lebendige Anteile eines Systems versucht zu ordnen, zu reglementieren, zu standardisieren, zu managen, zu vereinfachen, zu steuern, zu messen, desto unfreier, enger, ungelöster, anstrengender wird alles. Man wundert sich dann immer wieder warum man trotz der vielen Zeit- und Geldinvestitionen, trotz klarer Vorgaben und zu erreichender Zieldefinitionen nicht an- oder weiterkommt. Dann sind Menschen oftmals erschöpft, enttäuscht und frustriert und Probleme der KundInnen noch immer nicht gelöst.
Kompliziertes dafür, kann Wissensmanagement, Pläne, Checkliste, Standards, Sicherheit durch Regeln sehr gut gebrauchen. Sonst kann auch das Menschen überfordern.
Wenn man jetzt in einer Organisation arbeitet, in der die Unterscheidung zwischen komplexen und komplizierten Anteilen nicht so gut gelingt, kann man zum Beispiel beobachten, dass viele darum bemüht sind, zu steuern, zu regeln und zu managen, was eigentlich gar nicht geht. All das, was eher weniger bis gar nichts von all dem bräuchte, sondern mehr Luft zum Atmen, Interaktion und Koordination wird in Handbücher gegossen, in aufwendigen Prozessen standardisiert, in Regelwerke gepresst.
So entsteht dann Verschlimmbesserung oder man tappt in die Blaue Falle. Man merkt es dann an mühsamen Prozessen, an Unmengen verpuffter Arbeitszeit, an viel beschäftigten Menschen, die jedoch von der eigentlichen Arbeit abgehalten werden, am Stöhnen, am Jammern, am Leistungsabfall, an Sinn- und Wertschöpfungsverlusten, an unzufriedenen KundInnen, an Konkurrenten die überholen.
Wenn man dann zur Krönung noch ein betriebliches Gesundheitsmanagement draufsetzt, könnte das als Symptombekämpfung bestens geeignet sein. Es löst jedoch nichts, es beruhigt nur die Illusion. „Wir kümmern uns eh um unsere Leute.“ Gesünder wird dann meistens niemand. Weder die Menschen noch die Organisation.
Die Globalisierung, die Digitalisierung, die Dichte der Märkte, die individuellen KundInnen-Anforderungen, die Welt wie sie aktuell ist und was sie aktuell braucht bringen eine neue Dynamik hervor. Diese Dynamik erhöht komplexe, lebendige Anteile und erzeugt historisch neue Herausforderungen. Diese brauchen Werkzeuge, um Probleme neu zu beschreiben und zu präzisieren. So, dass sie lösbar werden. Too much Planung, überschwängliche Leistungskontrolle, dominante formale Hierarchien und all-the-motivierungs-stuff schwächen im besten Falle die eigene Organisation und sind im schlimmsten Falle gefährlich bzw. gefährdend. Die Reintegration der menschlichen Fähigkeiten in die Wertschöpfung, Führung statt Steuerung, der Fokus auf Sinnerfüllung und die Stärkung der Wertschöpfungsstrukturen sind wesentlich.
Agile Transformation hin oder her. Zuerst muss man einmal verstehen, wozu und vor allem was es zu transformieren gilt.
Dieser Artikel ist auch auf dem Blog von sichtart hier erschienen.
Quellen: u.a. Niklas Luhmann, Heinz v. Förster, Peter Kruse, Gerhard Wohland, Thorsten Wolf, Niels Pfläging, Silke Hermann, intrsinsify, sichtart