»Keine Regeln /2«
Jürgen Diessl, Verlagsleiter im Econ Verlag, und ich kennen uns jetzt schon eine ganze Weile. Jürgen ist Teil unserer Les Enfants Terribles-Community (weil ich ihn sehr für eines halte), und in regelmäßig unregelmäßigen Abständen treffen wir uns auf einen Austausch über Wirtschaftsbücher, Literatur im Allgemeinen, das Enfant Terrible-Sein und was es sonst noch Wichtiges in dieser Welt gibt. Es ist jedes Mal eine wunderbare Bereicherung. Heute sprechen wir mit ihm über das neu erschienene Buch des Netflix-Gründers “Keine Regeln”, über das ihr hier eine kurze Review von uns findet, über gute Managementliteratur und wie man ein Buchprojekt begleitet.
Als wir uns das letzte Mal getroffen haben, hast du mir begeistert vom neuen Management-Buch des Netflix-Gründers erzählt, das ab sofort erhältlich ist. Du liest und siehst ja jede Menge Wirtschaft- oder Managementliteratur. Warum findest du ausgerechnet dieses Buch so besonders?
Wie viel Zeit und Platz gibst Du mir für die Antwort?… 🙂
Vorab: KEINE REGELN ist eines der besten Managementbücher, die ich in den letzten 20 Jahren gelesen habe. Unser Untertitel lautet: „Warum Netflix so erfolgreich ist“. Als Gründer und CEO hat Reed Hastings unzweifelhaft die Kompetenz, diese Frage zu beantworten. Dabei muss man sich vor Augen führen, dass er sein Geschäftsmodell mehrfach vollständig umgestellt hat. Vom DVD-Versand zum Streamingdienst weiter zum Anbieter von Exklusivproduktionen bis zum Filmproduzenten. Und noch dazu von national zu international – und jetzt produzieren sie auch noch gezielt für die regionalen Märkte. Es ist ja common sense, dass Großunternehmen – vor allem Marktführer – unflexibel sind: Nokia, Quelle, Polaroid – die Beispiele kennen wir…
Warum ist das also bei Netflix möglich? Hastings sagt: Es ist unsere Unternehmenskultur – und da wird es dann richtig spannend. Die Verantwortung und die Freiheiten, die er seinen Mitarbeitenden überlässt, sind definitiv außergewöhnlich. Noch dazu hat er sich Erin Meyer, Professorin an der INSEAD und Autorin von „The Culture Map“, als Ko-Autorin in das Projekt geholt, die mit allen seinen Mitarbeitern sprechen durfte und ihre Erfahrungen mit Netflix im Buch gegenschneidet. Was mir extrem gut gefallen hat, sind die vielen Beispiele, bei denen es dann doch nicht so funktioniert, wie Reed Hastings sich das vorgestellt hat – und dann seine Position, dass er aber wegen diesem einen Mitarbeiter, der es nicht verstanden hat, auf keinen Fall alle anderen unnötig einschränken will. Ich glaube, dass es sehr viele Leser mit einer engagierten Grundhaltung gibt, die nach jedem zweiten Kapitel denken: „Für den würde ich auch gerne arbeiten!”.
Was hast du aus dem Buch für dich gelernt?
Reed Hastings sagt, dass in einem normalen Betrieb ein Mitarbeiter vielleicht doppelt so gut sein kann wie der Kollege nebenan. Aber in einem Kreativunternehmen gibt es Leute, die sind zehnmal so gut wie andere. Das war mir so nicht klar. Und wenn diese Talente zur Konkurrenz gehen, ist das für das Unternehmen doppelt schlimm. Man verliert nicht nur einen extrem guten Mitarbeiter, sondern stärkt auch noch die Konkurrenz. Genau das sollte bei der Wertschätzung und auch beim Gehalt berücksichtigt werden. Das hören in den Kreativberufen sicher alle gerne.
Interessant fand ich außerdem die Feststellung, dass kluge Mitarbeiter viel lieber mit anderen klugen Mitarbeitern zusammenarbeiten und sich dann gegenseitig steigern. Wenn man sich schätzt und respektiert, sind auch die Ergebnisse besser. Auch die Akzeptanz für Kritik ist dann viel höher. Im krassen Kontrast dazu stehen die Büros, in denen überwiegend gelästert wird.
Lernst du überhaupt noch Neues aus diesen Büchern oder hast du mittlerweile alles gehört, alles gesehen?
Das Spektrum der Autoren, mit denen ich arbeiten durfte, ist enorm groß: Präsidenten, Botschafter, Minister, Top-Manager, Berater, Mittelständler, Whistleblower, Journalisten, Trendforscher, aber auch eine Börsenhändlerin, ein Ex-Hells Angel, ein Fremdenlegionär, ein ehemaliger Salafist – und aktuell ein Ex-BND-Chef. Ja, natürlich kann man von solchen Leuten mit ganz besonderen Erfahrungen und Blickwinkeln lernen. Aber es müssen gar nicht immer die großen Namen sein. Der Stoff für Bücher wird uns nicht ausgehen.
Du hast mal gesagt, dass dein Hauptjob darin besteht, Manuskripte abzulehnen… Wie muss denn ein Manuskript oder eine Buchidee sein, dass du sie dir überhaupt anschaust oder durchliest? Und ab wann bist du so begeistert, dass daraus dann ein Buch wird?
„Ein guter Teil meiner Arbeit besteht darin, Bücher zu verhindern.“ Das ist der Satz, den ich in Gesprächen mit potentiellen Autoren möglichst früh nutze, um die Erwartungshaltung realistisch zu halten. Was ich mir wünsche, ist ein gutes Exposé mit einem starken, erinnerungswerten Buchtitel, eine klare Alleinstellung und überzeugende Verkaufsargumente. Die Betonung liegt auf „überzeugend“ und bezieht sich auf meine Wahrnehmung. Der entscheidende Faktor ist immer der Autor. Wenn ich dessen Begeisterung teilen und weitertragen darf, ist das die beste Voraussetzung für ein erfolgreiches Buch.
Wie begleitest du Buchprojekte? Was ist deine Rolle dabei? Und was ist dir wichtig?
Wir versuchen, gemeinsam mit dem Autor das bestmögliche Buch in die Welt zu bringen. Dazu gehören ein paar gute Fragen, die Diskussion über die Kernmessage des Buches, die Konzeption, die Titelfindung, der Kontakt zu möglichen Multiplikatoren usw. Geburtshelfer ist vielleicht ein guter Vergleich. Wichtig ist, dass der Autor am Ende das Gefühl hat, dass es wirklich sein Buch ist.
Und wie viele Deiner Titel waren unter den Top 20 der Spiegel-Bestsellerliste?
38
Hat sich der Markt der Wirtschaftsbücher oder Managementliteratur über die letzten Jahre verändert – was die Inhalte angeht und/oder vielleicht auch die Lesegewohnheiten der Menschen?
Ja. Der Markt ist nicht einfacher und nicht größer geworden. Außerdem werden Themen online immer schneller verbrannt. Der wichtigste Hebel, die Bücher sichtbar zu machen und eine Nachfrage zu erzeugen, sind Journalisten, aber auch die haben immer weniger Zeit zum Lesen. Das e-book hat sich im gesamten Sachbuch nicht so stark etabliert wie erwartet. Bücher über 400 Seiten haben es schwerer als früher.
Und hat sich der Buchmarkt in der Corona-Zeit sehr verändert?
Mein Eindruck ist, dass die ganz kleinen, oft inhabergeführten Buchhandlungen sehr viel Solidarität erfahren haben und viele Bestellungen dorthin verlagert wurden. Ich würde mich freuen, wenn das anhält. Ansonsten hatten während der Corona-Zeit unglaublich viele Leute unerwartet Zeit. Und sehr viele hatten den Eindruck, dass man jetzt unbedingt ein Buch über die Folgen von Corona schreiben muss. Im ungünstigsten Fall sehen wir also in den nächsten Monaten mehrere Hundert Mal das gleiche Buch von verschiedenen Autoren. Ich gebe aber zu, dass wir auch eines publiziert haben: Die Zukunft nach Corona von Matthias Horx. Ende Mai waren wir allerdings (fast) die Ersten.
Wie bist du denn im Buchgeschäft gelandet? Und warum?
Das ist eine (zu) lange Geschichte… und war so nicht geplant 😊.
Warte mal… Dann muss ich die Frage vielleicht in unserem neuen Les Enfants Terribles-Podcast noch einmal an Dich stellen… 🙂
Aber sag mir, was ist dein allerliebstes Lieblingsbuch überhaupt? Und warum?
Meinst du von allen die ich gelesen habe? Oder „nur“ die aus meinem eigenen Programm? Das wäre wie die Frage an eine Mutter nach ihrem Lieblingskind. Aber darf ich dir – aus dem Kopf – die aus meiner Sicht wichtigsten Managementbücher auflisten?
Also ohne Priorität, nicht alphabetisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
- Reinhard Sprenger, Mythos Motivation
- Fredmund Malik, Führen Leisten Leben
- Henry Mintzberg, Managen
- Frederic Laloux, Reinventing Organizations
- Felix von Cube, Lust auf Leistung
- Dieter Brandes, Einfach managen
- Steven Covey, Die sieben Wege zur Effektivität
- Richard Thaler, Nudge
- Nassim Taleb, Der schwarze Schwan
- Clotaire Rapaille, Der Kultur-Code
- Kahnemann, Schnelles Denken, langsames Denken
- Niels Pfläging, Organisation für Komplexität
- Otto Scharmer, Theorie U
- Götz Werner, Womit ich nie gerechnet habe
- Dan Ariely, Denken hilft zwar, nützt aber nichts
- Gerd Gigerenzer, Bauchentscheidungen
- Peter Drucker, Was ist Management?
- Vera Birkenbihl, Birkenbihl on Management
- und jetzt natürlich auch: Reed Hastings, Keine Regeln
Und nein, das sind nicht alles Econ-Titel.
Keine schlechte Liste… Wir nehmen die mal alle in unsere Buch-Empfehlungsliste mit auf. Danke dafür!
Darfst Du schon etwas zu Deinem Programm in 2021 sagen?
Offiziell kommuniziert haben wir das Programm noch nicht, aber einen – für Euch vielleicht interessanten Titel – kann ich schon erwähnen:
Frank Dopheide: „Gott ist ein Kreativer – kein Controller“. Mit dem schönen, aber langen Untertitel: „Über das Leben außerhalb der Effizienzfalle oder warum wir mit unserem Lebenspartner kein Jahresgespräch führen sollten.“ Frank Dopheide war mal Werbetexter. Das wird ein ganz besonderes Buch, auf das ich mich jetzt schon freue.
Ich danke Dir für das Interview! Und freue mich jetzt schon wieder auf unseren nächsten Kaffee!
Unter diesem Link hier findet ihr unsere Buch-Rezension zu “Keine Regeln – Warum Netflix so erfolgreich ist”.
Jürgen Diessl ist seit 15 Jahren Verlagsleiter beim Econ Verlag in Berlin. Thematisch klar fokussiert auf Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Er verantwortet dort ein sehr kleines, aber feines Programm mit maximal 6 bis 8 Titeln pro Halbjahr. D. h. dass seine Erwartungshaltung an jedes einzelne Projekt sehr hoch ist.