»lohnt sich das alles? ja!«
Seit ich mit und für die Enfants Terribles arbeite, habe ich eine ganz neue Art des Vokabulars entwickelt, das sich auf mein Denken und Handeln auswirkt. Morgens treibe ich die Kinder mit einem „Komm ins Machen, Kind!“ an und bei Kaffee und Kuchen doziere ich über Wirkkreise und Selbstverantwortung. Und in diesem Frühling war es nun so weit gekommen, dass ich auf die alljährliche selbstgestaltete Osterbaumdekoration mit Tusche das Wort „Haltung“ malte. Das kommt so richtig gut auf dem Land, wirklich.
Die Werte und eben diese Haltung der Enfants greifen viel weiter als das gute neue Arbeiten. In den letzten zwei Jahren hat es sich unter meinen Augen zu einer Idee vom guten neuen Leben weiterentwickelt. Dazu gehört das alles, was wir uns in unserer Bubble auch als Schlagwörter um die Ohren hauen: Nachhaltigkeit, Zero Waste, der Verzicht auf tierische Lebensmittel und Plastik, Fahrrad fahren statt Auto und überhaupt von allem viel weniger, #minimalismus.
Tatsächlich glaube ich, dass der Verzicht, auch wenn es schmerzt und unangenehm ist, eines der wichtigsten Mittel ist, um als Welt zukunftsfähig zu bleiben oder zu werden. Diskussionen darüber führe ich nicht gern. Zu häufig kommt dann: „Bevor ich auf mein Auto verzichte, sollen die erst einmal den öffentlichen Nahverkehr in den Griff bekommen“ oder „Da sollen erst einmal die Löhne steigen, bevor ich mir das Öko-Essen leiste“. Und überhaupt: Wenn ich hier auf meine Bratwurst verzichte oder das T-Shirt für 4,99 Euro nicht kaufe – wird dann die Welt besser? Nein, nein. Da sind immer noch die korrupten Politiker, die Auto-Lobby und die ganzen Entwicklungsländer, in denen wahrscheinlich weniger Menschen veganes Essen und plastikfreies Duschgel feiern. Sie sind schlimmstenfalls froh, wenn sie überhaupt genügend zu essen haben. Also warum hier anfangen, wenn alle anderen so weitermachen?
Diese Diskussionen sind ermüdend. Man wird angelächelt, meistens belächelt. Ach, diese stricktragende Ökotante. Wirklich gut gemeint, aber doch irgendwie ein Gutmensch.
Und dann kommt man selbst ins Straucheln. Ja, wo fange ich denn eigentlich an? Ich neige ja zum Über-Aktionismus, will zumeist noch morgens aus dem Bett heraus die ganze Welt retten und bin bereit, zu opfern, zu verzichten. Aber macht das Sinn? Ich neige auch zu einer Art Über-Informiertheit. Ich lese zu viele Nachrichten, kenne zu viele Zahlen und wenn in meiner lokalen Facebook-Gruppe wieder einmal über Zugezogene (in Gänsefüßchen, Flüchtlinge sind gemeint) gehatet wird, dann bin ich da, monologisiere, sammle hinter mir Verbündete, aber ernte auch dort zumeist ein müdes Lächeln, wenn ich nicht selbst gehatet werden.
Ich fange dann an zu schwimmen, frage mich, wie genau ich es eigentlich anpacken muss. Und im Hinblick auf die next generation: Wie verdammt nochmal bereite ich meine Kinder auf das alles vor? Muss ich denen jetzt das Würstchen versagen und auf die Massentierhaltung verweisen? Verbiete ich ihnen bei 35 Grad im Schatten, ihr Planschbecken mit wertvollem Trinkwasser zu füllen?
Dann doch lieber wieder Bettdecke über den Kopf und eine Runde greinen.
Und dann kam wie aus dem Nichts ein Buch, das mir geholfen hat, mich gedanklich zu sortieren und das mir das systemische Denken nähergebracht hat. Ich bin jetzt ein Fan.
Es ist das Buch „Mehr sein, weniger brauchen – Was Nachhaltigkeit mit unseren Beziehungen zu tun hat“ von Thomas Bruhns und Jessica Böhme. Thomas Bruhn ist Physiker und leitet am IASS Potsdam die Forschungsgruppe »Mindsets für das Anthropozän«. Dort arbeitet auch Jessica Böhme, die zurzeit Doktorandin an der Leuphana Universität Lüneburg ist.
Das Buch ist für mich ein klein wenig die Fortsetzung von Maja Göpels „Unsere Welt neu denken“ (die dieses Buch übrigens „alltagsinspirierend“ findet), das ja vor allem das neue Wirtschaften zum Thema hat. Das Buch macht den Bezug zu jeden Einzelnen von uns auf. Es hat mir gezeigt, dass es eben doch zählt, wie ich mein Leben gestalte und dass ich ein Teil des Wandels bin. Das war mir natürlich vorher auch schon so gefühlt bewusst. Aber das Ganze hat jetzt – System!
Dieses Buch bietet auf ganz vielen Ebenen Antworten darauf, was Nachhaltigkeit mit unseren Beziehungen zur Natur, zu uns selbst und anderen Menschen zu tun hat. Aber vor allem in diesem einen Aspekt hat es etwas in mir getroffen, es ist dieser systemische Blick auf die Welt. Hier erzählt Reni Meyza aus einer philosophischen Perspektive von diesem systemischen Blick, Bruhns und Böhme bringen es auf die Füße, in dem sie es wissenschaftlich angehen und auf unseren Alltag beziehen.
-
Thomas Bruhns + Jessica Böhme: „Mehr sein, weniger brauchen – Was Nachhaltigkeit mit unseren Beziehungen zu tun hat“
Beltz Verlag, 2021
256 Seiten, 19,95 Euro
ISBN: 978-3-407-86638-7
Ich habe zum ersten Mal richtig verstanden, dass sich gerade unser ganzes Weltbild wandelt und es die eigentliche Herausforderung ist, da mitzugehen und möglichst viele mitzunehmen. Wir leben in einer komplexen Welt, in der die Folgen unseres Handels nicht immer voraussehbar sind. Ein Dieselmotor ist in seinem Aufbau vielleicht kompliziert, aber wir können uns darauf verlassen – wenn das Ding nicht kaputt ist – dann springt der Motor an, wenn ich den Schlüssel im Schloss herumdrehe. Wenn A, dann B. (Aber natürlich nicht immer B, wenn A). Nach diesem Prinzip macht unsere Regierung auch gerade (noch) Politik, habe ich das Gefühl. Als wenn ein höheres Elterngeld mehr Kinder bringt, höhere KfZ-Steuern den Klimawandel stoppen und Pop-up-Radwege die Energiewende bringen.
Klappt natürlich nicht. Was für viele dann immer der Grund zum Meckern ist. Bringt doch eh nichts. Das soll jetzt die Lösung sein?
Nein. Eben nur ein Teil davon.
Wir leben in einer komplexen Welt. Wir wissen nicht, was passiert, wenn alle Gletscher geschmolzen sind, uns fehlt das B. Wir wissen auch nicht, wie wir den Klimawandel stoppen können. Hier fehlt das A.
Aber gibt es den denn überhaupt, den einen, entscheidenden Faktor, um die Welt zu retten? Das große A? Wahrscheinlich nicht. Und das ist ein Glück. Wir müssen von dieser Idee ablassen.
Es wird nicht die eine Maßnahme geben, um das Ruder rumzureißen. Denn: Es kommt auf jeden Einzelnen von uns an, der in dem System lebt, das wir Welt nennen. Wirklichkeit. Gesellschaft. Es ist ein faszinierender Gedanke: Ich bin das System. Ich kann darüber sprechen und gleichzeitig bewirke ich durch dieses Sprechen etwas innerhalb des Systems. Aber was genau ich damit bewirke, das liegt oftmals außerhalb meines Wirkungsbereiches. Ich kann es nicht steuern. Das macht, glaube ich, viele Menschen fertig. Dass wir durch den Verzicht auf Fleisch eben nicht sofort und direkt die Massentierhaltung abschaffen. Dass wir mit dem Säen von Bienenweiden nicht sofort und direkt das Insektensterben verhindern.
Aber jetzt, jetzt kommt meine frohe Botschaft: „Systemdynamiken entstehen durch die Dominanz bestimmter Beziehungsmuster.“ Toll, oder? Jeder von uns kann die Person sein, die die kritische Masse zum Tipping Point führt. Und genauso können meine wilden Malven, meine veganen Bratwürste und meine wildesten Upcycling-Projekte die Wende sein. Indem ich meine Idee eines guten Lebens lebe, hinterlasse ich Spuren in meinem Wirkkreis und im besten Fall rege ich Menschen in meinem Umfeld an, über ihr eigenes Leben nachzudenken und anders zu handeln.
Ich kann es nicht steuern, ich kann nur machen. Mit diesem Gedanken kann ich ein Stück weit Frieden schließen. Ich muss meine Kids nicht zur veganen Ernährung zwingen, in dem ich ihnen die Chicken Wings aus der Hand schlage. Ich lebe vor – auch wenn es mit der Akzeptanz von Rote Bete-Auflauf noch nicht so weit her ist.
Es sind diese kleinen Schritte, die den Unterschied machen, da bin ich mir ganz sicher. Und wer sich mit unserem Verständnis von guter neuer Arbeit auseinandergesetzt hat, vielleicht sogar unsere New Work-Ausbildung mitgemacht hat, der weiß, dass diese Idee vom Wirken natürlich auch für den Job zählt. Mit jedem kurzen Check-In und jedem kleinen ALI wird gutes neues Arbeiten ein Stück wirklicher.
Es ist ein so schöner Gedanke: Ich bin Teil des Systems und es zählt halt doch, ob ich veganes Süßkartoffelcurry oder Currywurst auf den Tisch bringe.