»Mann, schaffe!«
Bereits die Menschen – historisch bedingt fast ausschließlich Männer – im 19. Jahrhundert schlugen sich mit dem Thema „Work-Life-Balance“ herum, das zeigt Eva-Maria Ochs in ihrem Buch „Beruf als Berufung? Die Work-Life-Balance bürgerlicher Männer im 19. Jahrhundert“. Wir sprachen mit ihr über die Anforderungen an den modernen Mann, die Entfremdung der Arbeit und die Frage: Was mache ich mit meiner arbeits-losen Zeit, der freien Zeit?
Liebe Frau Ochs, gleich zu Beginn die Frage: Was ist eigentlich der „bürgerliche Mann“?
Mit der Industrialisierung bildeten sich zwei Typen des bürgerlichen Mannes heraus, der Bildungsbürger und der Wirtschaftsbürger. Letztere waren beispielsweise aufstrebende Unternehmer, Bildungsbürger waren Beamte oder Juristen.
Die Arbeit wurde im Bürgertum des 19. Jahrhunderts zu einer Art Lebenssinn. Männer definierten sich über ihre Arbeit, durch ihren Besitz und ihre Bildung gehören sie dem bürgerlichen Stand an, was ihnen Ansehen und Privilegien verschaffte. Wer für den Staat arbeitete, der verband mit dem Beamtentum noch einen spezielleren Arbeitsethos. Beamte waren Staatsdiener, die sich eigentlich komplett ihrem Dienst für den Staat verschrieben haben, sie waren sprichwörtlich mit ihrer Arbeit verheiratet.
Wie wurde diese Entwicklung möglich?
Mit der Industrialisierung hat sich eine neue Lebens- und Arbeitstaktung ergeben. Die künstliche Beleuchtung ermöglichte es beispielsweise, viel länger zu arbeiten, zum anderen entstanden mit der Arbeit in der Fabrik ganz neue Orte zum Arbeiten. Dadurch hat sich ein Gegensatz entwickelt, nämlich der zwischen dem natürlichen Zyklus und dem Arbeitsleben. Noch die Eltern der ersten Generation der bürgerlichen Männer waren Bauern, die im vorgegebenen Takt der Tages- und Jahreszeiten lebten, ihr Leben war organisch, alle Bereiche flossen ineinander. Mit den neuen Möglichkeiten zur Gestaltung der Arbeit entfremdete sich der Mann als Arbeitskraft von seinem Leben als Privatmensch. Früher lebten und arbeiteten alle Familienmitglieder gemeinsam, die Industrialisierung machte diese Trennung möglich und eine Work-Life-Balance notwendig.
Und gab es die denn wirklich, die Work-Life-Balance?
Schon. Es gab so etwas wie den Anspruch, die Bereiche Arbeit und Familie auszubalancieren. Zum einen sollte der Mann seiner Arbeit nachkommen, denn das Verdienen von Geld war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts seine wesentliche Aufgabe. Das war auch in der zweiten Hälfte der Fall, nur dass er nun auch in der Familie eine Rolle spielen sollte. Er hatte sich um die Familie zu kümmern und für ihre Bildung und Zukunft zu sorgen und bei Sonntagsausflügen präsent zu sein. Aber wie es geschrieben wird, so wird es nicht unbedingt gelebt. Es gab einen eklatanten Unterschied zwischen Theorie und Praxis und hierfür ein typisches Narrativ, das diesen Widerspruch auflöst: Die Männer gingen ihrer Arbeit nach und entschuldigten sich dafür, dass für ihre familiären Verpflichtungen leider, leider keine Zeit blieb. Das verstand jeder und es wurde nicht weiter hinterfragt. Trotzdem gab es den Anspruch, beide Lebensbereiche zusammenzubekommen.
Und wurde durch die angesprochene Entfremdung auch ein Ausgleich in Form von „freier Zeit“ notwendig?
Ja, durchaus. Die Freizeit wurde dadurch definiert, dass es sich wortwörtlich um arbeitsfreie Zeit handelt. Wie schon gesagt war vor der Industrialisierung der Arbeitstag organisch, nach der Arbeit auf dem Feld wurden am Abend noch Sachen gepflegt oder es wurden Geschichten erzählt. Das war der Ausgleich zur körperlichen Arbeit. Mit der strikten Trennung von Arbeit und der arbeitsfreier Zeit kam die Frage auf, was dann zu tun ist, wenn der Arbeitsplatz verlassen wird.
Und was waren typische Freizeitaktivitäten?
In der sogenannten zweiten Generation des ausgehenden 19. Jahrhunderts veränderte sich das. Die Männer suchten sich bewusst eine ausgleichende Sportart wie etwa Tennis oder Reiten. Auch aus Prestigegründen wurden Bücher und Kunst gesammelt, Liebhabereien betrieben. Hier wurde die Familie insofern einbezogen, dass Frauen und Kinder durchaus, beispielsweise bei Gesellschaften oder Ausflügen, sichtbar waren. Sie sollten auch zeigen „seht her, was für ein gelungenes Privatleben ich habe“. Und vor allem suchte man den Ausgleich in der Natur, bei Wanderungen und Spaziergängen. Was durch die weiter oben angesprochene Entfremdung von Arbeit und Natur getrennt wurde, wurde hier versucht wieder zusammenzuführen.
Hatten es Männer damals leichter als die heutigen Männer?
Ja, das könnte man sagen. Der Stellenwert der Arbeit war so hoch, dass mit Nachsicht reagiert wurde, wenn sie ihren Pflichten als Familienoberhaupt nicht nachkamen. Zudem wurde es ja als aktive Teilnahme am Familienleben auch als ausreichend betrachtet, wenn der Vater auf seinen häufigen Reisen Briefe schickte und bei der Auswahl des Hauslehrers mitdiskutierte. Hier ist in keinster Weise von Unterstützung im Haushalt oder dem Anspruch, sich jeden Tag aktiv am Familienleben mit all den erzieherischen Herausforderungen zu beteiligen, die Rede. In diesem Sinn haben es Männer heute sicherlich schwerer, weil die Ansprüche, sich aktiv in die Erziehung und in den Alltag miteinzubringen, gestiegen sind. Allerdings muss man dazu auch sagen, dass es natürlich auch Frauen heute schwerer haben. Im Gegensatz zu früher wird von ihnen heute erwartet, dass sie einem Beruf möglichst erfolgreich nachgehen. Zudem sollen sie weiterhin den Haushalt machen, gewisse Schönheitsideale erfüllen, Mutter und begehrenswerte Partnerin sein. Mit der Gleichberechtigung haben sich also auch ein Stück weit die Anforderungen an Frauen und Männer angeglichen, was es für beide nicht leichter macht.
Was können wir aus Ihren Erkenntnissen für die Zukunft der Arbeit mitnehmen?
Wie immer erlaubt der Blick in die Vergangenheit eine neue Sicht auf die Gegenwart. Die Idee der Berufung zeigt sich meiner Meinung nach heute in Form der Idealisierung von Arbeit, die auch teilweise im New Work-Kontext zu finden ist. Es gibt Unternehmen, die ihre Angestellten dazu ermuntern möchten, auch ihre Freizeit im Unternehmen zu verbringen, teilweise werden Arbeitsräume wie Wohnzimmer gestaltet, sie sollen sich wie zu Hause zu fühlen. Dadurch identifizieren sich viele Menschen sehr stark mit ihrer Arbeit und planen ihr ganzes Leben daraufhin. Der Anspruch, aus dem 19. Jahrhundert, Beruf als Berufung zu leben, hat sich so auf die gesamte Bevölkerung ausgeweitet
Dr. Eva-Maria Ochs ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte und Biographie der FernUniversität in Hagen. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts, Oral History und Digital Humanities. Sie habilitierte sich mit der Schrift „Beruf als Berufung? Die Work-Life-Balance bürgerlicher Männer im 19. Jahrhundert“. Sie erschien im Oktober 2020 im Röhrig Universitätsverlag.
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