»Nach bestem Wissen und Gewissen unbequem«
Julia Borggräfe ist schon sehr lange Teil unserer Les Enfants Terribles-Community. Vor Kurzem hat sie die Position der Abteilungsleiterin Digitalisierung und Arbeitswelt im Bundesministerium für Arbeit und Soziales übernommen. Sie hat aus der Industrie in die Politik gewechselt. Wir haben sie getroffen und mit ihr über ihre Beweggründe, ihre Herausforderungen in dieser neuen Position und vor allem in dieser neuen Umgebung gesprochen.
In den letzten Jahren hast du u.a. bei der Messe Berlin und davor bei Daimler im Bereich HR gearbeitet. Jetzt hast du vor ein paar Monaten deinen neuen Job im Bundesministerium für Arbeit und Soziales gestartet. Was war der Grund für dich, in die Politik zu wechseln?
Mich hat die Möglichkeit gereizt, auf der systemischen Ebene an der Gestaltung von Rahmenbedingungen mitzuarbeiten. Außerdem hat die Leitung des BMAS mir mit der Führung der Abteilung „Digitalisierung und Arbeitswelt“ ein unglaublich spannendes Arbeitsfeld angeboten – in diesem Bereich passiert wahnsinnig viel. Ich lerne jeden Tag dazu und wir haben große Gestaltungsmöglichkeiten.
Deine Abteilung “Digitalisierung und Arbeitswelt” wurde neu geschaffen. Was ist das Ziel deiner/eurer Arbeit dort? Was sind vielleicht auch Erwartungen speziell an dich – gerade mit deinen bisherigen Arbeitserfahrungen?
Die Schaffung der neuen Abteilung “Digitalisierung und Arbeitswelt” und der Denkfabrik, die zur Abteilung gehört und Mitte Oktober offiziell eröffnet wurde, war ein Ergebnis des Weißbuchprozesses Arbeiten 4.0. Ziel unserer Arbeit ist, den Wandel in der Arbeitswelt sehr genau zu verstehen, die Spannungsfelder zu formulieren und in partizipativen Prozessen gute Gestaltungsvorschläge zu erarbeiten. Beispielsweise sind wir gerade dabei, gemeinsam mit dem BMWi und dem BMBF die KI-Strategie für die Bundesregierung zu erarbeiten. Darin formulieren wir unsere Vorstellungen für Künstliche Intelligenz in Bezug auf gute und menschenzentrierte Arbeit. An dem Prozess waren viele Expertinnen und Experten beteiligt, die ihr Wissen eingebracht haben. Wir sind der Überzeugung, dass technische Innovation auch auf soziale Innovation einzahlen soll. Teilhabe und Bildung sind der Schlüssel dafür, dass die digitale Transformation gut gelingt und die Menschen auf der Reise mitgenommen werden.
Die Erwartungshaltung an mich ist sicherlich auch, dass ich meine Erfahrung aus 20 Jahren Unternehmenspraxis und agilem Arbeiten beisteuere – der Dialog mit und der Transfer in die Praxis spielen für unsere Arbeit eine wesentliche Rolle.
Wie erlebst du deine Arbeit im Ministerium? Was ist anders/neu im Vergleich zu deinen bisherigen Jobs – oder wo gibt es vielleicht auch keine Unterschiede? Welche deiner Kompetenzen sind am meisten gefragt? Und was sind die ersten Schritte, die du dort gegangen bist, was sind die wichtigsten Themen aktuell?
Zunächst bin ich sehr froh, in und mit einem tollen Team arbeiten zu dürfen. In der Hinsicht ist es egal, in welcher Organisation man arbeitet – die Qualität der Zusammenarbeit spielt für mich immer eine große Rolle. Ich bin sehr überrascht über die große Kompetenz, die wir in der Behörde haben. Nicht, dass ich das Gegenteil angenommen hätte, nur wird diese Kompetenz nach außen hin nicht unmittelbar sichtbar. Das finde ich schade. Wir versuchen, das mit der Arbeit der Denkfabrik ein Stück weit zu verändern.
Im Hinblick auf das Ausprobieren neuer Methoden und auch auf Fragen guter Arbeits- und Führungskultur erlebe ich große Offenheit. Das BMAS wird im kommenden Jahr beispielsweise mit der INQA-Auditierung beginnen (INQA = Initiative Neue Qualität der Arbeit). Gleichzeitig können wir nicht erwarten, dass alle Kolleg_innen sofort Fans von Design Thinking oder agilen Projektteams werden – wir müssen natürlich glaubhaft belegen, dass es Sinn macht, an der ein oder anderen Stelle Neues auszuprobieren.
Uns treiben im Moment alle Fragen um, die mit der Veränderung der Arbeitswelt und der Arbeitsgesellschaft zu tun haben. Dazu gehören zum einen digitale Themen wie KI, Plattform-Ökonomie oder Blockchain, aber auch andere Fragen wie z.B. der Fachkräftemangel, die Veränderung der Arbeitswelt durch gesellschaftliche Entwicklungen oder auch Bildungsfragen. Im Rahmen der Nationalen Weiterbildungsstrategie, an der wir gemeinsam mit dem BMBF arbeiten, wollen wir Bildung als zentrales Element einer gelingenden digitalen Transformation stärken. Außerdem müssen wir Bildung wieder ganzheitlich denken. Wenn soziale Kompetenzen wie Empathiefähigkeit, Offenheit für Neues, Konfliktfähigkeit etc. in einer agiler werdenden Arbeitswelt eine immer wichtigere Rolle spielen, müssen wir uns genau anschauen, wie wir diese Kompetenzen, die in der Regel im frühkindlichen Alter entstehen, fördern können. Es geht also um die gesamte Bildungskette. Unsere Aufgabe dabei ist es, gemeinsam mit den Bundesländern und den anderen Ressorts (wie z.B. BMBF) dafür sorgen, dass die Schwerpunkte (und damit auch Investitionen) richtig gesetzt und Maßnahmen gebündelt werden. Wir brauchen zudem Beratungsangebote für diejenigen, die Unterstützung in der Frage zu benötigen, wohin ihre berufliche Reise geht. Dieses Recht ist durch das kürzlich verabschiedete Qualifizierungschancengesetz verbrieft worden – die Bundesagentur für Arbeit wird hier eine wichtige Rolle spielen, um eine präventive Arbeitsmarktpolitik zu gestalten. Präventiv heißt, Entwicklungen langfristig zu begleiten und nicht erst dann zu reagieren, wenn Leute ihren Job verloren haben. Viele Menschen haben große Sorgen vor Jobverlust – wir wollen deshalb Rahmenbedingungen schaffen, die klar machen, dass wir diese Sorgen ernst nehmen. Dabei ist es uns wichtig, dass die Menschen das Heft des Handelns selber in der Hand behalten und Unterstützung in der Veränderung bekommen.
Was ist dein Idealbild einer guten neuen Arbeitswelt? Was bedeutet es für dich ganz persönlich, gut neu zu arbeiten?
Für mich ist eine gute neue Arbeitswelt eine, in der Menschen die Möglichkeit haben, in ihr ganz besonderes Potential zu kommen, sich und ihre Familie davon auch noch gut und sorgenfrei ernähren können und optimistisch in die Zukunft schauen, weil sie das gute Gefühl haben, diese mitgestalten zu können und nicht ausgeliefert zu sein.
Für mich ganz persönlich heißt gutes neues Arbeiten, einen Job zu haben, mit dem ich mich voll und ganz identifizieren kann (kann ich), in dem ich das Gefühl habe, etwas für den Zusammenhalt der Gesellschaft beitragen zu können (habe ich), und mit tollen Kolleg_innen zusammenarbeite (tue ich), und gleichzeitig genug Zeit zu haben für meine Familie, meine Freunde und für Sport und das Meditieren (klappt gerade nicht so richtig gut).
Was hältst Du von Konzepten wie dem Bedingungslosen Grundeinkommen oder der Gemeinwohlökonomie?
Den Gedanken der Gemeinwohlökonomie finde ich total spannend. Ich denke, dass wir durch die Diskussion von ethischen Fragegestellungen im Rahmen der Digitalisierungsdebatte viele dieser Themen werden aufgreifen können. Außerdem kann darin für Europa eine große Chance bestehen, sich zu positionieren.
Das bedingungslose Grundeinkommen sehe ich deswegen sehr kritisch, weil die überwiegende Anzahl von arbeitenden Menschen einen tiefen Sinn in ihrer Tätigkeit sieht. Sie wären durch ein bedingungsloses Grundeinkommen zwar finanziell abgesichert, aber möglicherweise persönlich isoliert. Insofern halte ich es für sinnvoller, darüber nachzudenken, wie wir auch in Zukunft gemeinsam eine gute Arbeitsgesellschaft schaffen können – denn nach allen Prognosen wird die Arbeit nicht weniger, sondern anders.
Du bist ja auch Teil unserer Les Enfants Terribles-Community. Warum bist du ein Enfant Terrible? Was bedeutet das für dich und was macht es aus?
Für mich ist ein enfant terrible jemand, der für die eigenen Überzeugungen und Werte eintritt, auch wenn es mal unbequem wird. Ich versuche das nach bestem Wissen und Gewissen zu tun. 🙂