»Nicht denken? Nichtdenken!«
„Nichtdenken? Wie sollte Nichtdenken eine Tugend sein können – zumal in einer Zeit, in der offensichtlich viel zu wenig nachgedacht und stattdessen allzu leichtfertig, schnell und opportunistisch gehandelt wird, ohne Rücksicht, ohne Weitblick, kurzsichtig?“ fragt Gert Scobel und liefert die Antwort in seinem gleichnamigen Essay, das in der Buchreihe „Tugenden des 21. Jahrhunderts“ im Nicolai Verlag erschien.
Worum geht es also beim Nichtdenken? Sicher ist damit nicht eine Art Lebenseinstellung gemeint, mit der man per se auf kritisches Denken verzichtet. Vielmehr verbindet der Autor der 3sat-Sendung „scobel“ fernöstliche Praktiken wie das Meditieren und Achtsamkeitsübungen mit den aktuellsten Ergebnissen der Kognitionswissenschaft und Hirnforschung.
Heraus aus dem Narrativ
Im Buddhismus gibt es das schöne Bild von den Wolken, die unseren Geist vernebeln und die wir durch das Meditieren beiseite schieben, um das Wirkliche und Wahre zu erkennen. In den Neurowissenschaften heißt dieser Nebel Default Mode Network, ein „Zustand, in dem sich Gedanken an Gedanken und Geschichte an Geschichte reiht“, wie Scobel es ausdrückt. Tatsächlich befinden wir uns nur selten im Jetzt und Hier, sondern versehen die Realität immer wieder mit Tagträumen, die in die Vergangenheit oder in die Zukunft weisen. Während dieser Phasen sind bestimmte Areale des Hirns aktiv, die über die Realität einen mehr oder weniger zarten Schleier von Annahmen, Ansichten, Emotionen und (unbewussten) Gedankenmustern legen. Wer ein Fan von Binge Watching ist oder schon längst die Kontrolle über sein Nutzerverhalten in sozialen Netzwerken verloren hat, der weiß, wie schnell man den Bezug zur Realität verlieren kann. Gerade im Hinblick auf die endlosen Daten- und Informationsmengen, mit denen wir uns jeden Tag konfrontiert sehen, ist ein Blick auf das, was „wirklich“* gerade geschieht, immens wichtig.
Werde zum Beobachter
Scobel zeigt anhand von Forschungsergebnissen auf wenigen, sehr dicht mit anregenden Impulsen gefüllten Seiten, das regelmäßiges Meditieren einen Einfluss auf unsere Sicht des Lebens hat, da sich Hirnaktivitäten durch Meditation nachhaltig verändern. Durch Achtsamkeit und Meditation lässt sich der Nebel, den das Default Mode Network erzeugt, nach und nach verdrängen. Er macht Platz für eine unvoreingenommene Sicht auf die Dinge. In diesem Zustand nehmen wir sozusagen eine Beobachterposition ein. Wir haben vielleicht noch immer Tagträume und arbeiten uns an starken Emotionen ab, aber: Wir realisieren, dass wir diese Gedanken und Gefühle haben, verlieren uns aber nicht in ihnen. Durch stetiges Einüben von Achtsamkeitspraktiken und Meditation können wir das Mindwandering verhindern und landen im Hier und Jetzt.
„Achtsamkeit setzt sich gewissermaßen an die Stelle des Lebens im Fiktiven“, erklärt Scobel, „an die Stelle der durch Narrative, Tagträume und Gedankenwolken erzeugten Bewusstseinszustände des Mindwandering tritt eine klarere Wahrnehmung dessen, was tatsächlich ist“.
Und genau diese Fähigkeit könnte eine der maßgeblichen Tugenden des 20. Jahrhunderts sein: Eine Beobachterposition einnehmen und nicht in den (Gedanken-)Strukturen des 20. Jahrhunderts feststecken. So sind wir offen für Neues und können uns einen möglichst klaren Blick auf aktuelle Entwicklungen erarbeiten.
Dieses Buch ist also eine Empfehlung für alle, die sich mit Achtsamkeit und dem Hier und Jetzt beschäftigen möchten.
* Hier landen wir umgehend in den tiefsten philosophischen Gefilden. Das, was wir Realität, das objektiv Gegebene, nennen, wird immer von einer Person wahrgenommen. Und das Seelenleben ist zutiefst subjektiv und nicht von einer dritten Person einsehbar. Deshalb stellt sich die grundsätzliche Frage, was überhaupt eine von der Wahrnehmung des Einzelnen unabhängige Realität sein soll.