»socialtecture«
Aus der Krise können wir viel für die Zukunft lernen: Wie wir in unserer baulichen Umgebung Nähe und Distanz schaffen können – und wie sich das Home Office weiterdenken lässt.
Da sind wir also. Allein oder mit der Familie zu Hause. Draußen, wo sonst das Leben in den Städten pulsiert, ist oft gespenstische Ruhe eingekehrt. Leere Plätze, ruhige Straßen, geschlossene Büros, Geschäfte, Cafés, Restaurants und Clubs. Schmerzhaft wird uns bewusst, dass uns das öffentliche Leben fehlt.
Als Konsequenz versuchen wir das öffentliche Leben digital ins Private zu holen, gehen virtuell aus, streamen Wohnzimmerkonzerte, kaufen Gutscheine fürs Restaurant. Wir managen Projekte über Videokonferenzen, bearbeiten Schulaufgaben online, chatten mit der Familie. Und so gut es geht, so weit es erlaubt ist, suchen wir, wenn auch auf Abstand, den Kontakt zu anderen im öffentlichen Raum, machen Small Talk über Meter hinweg, suchen, wo immer es geht, die Verbundenheit im Öffentlichen.
Das, was wir zuvor in unserer täglichen Routine gar nicht mehr wahrgenommen haben, unsere bauliche Umgebung, bekommt plötzlich eine andere, neue Bedeutung: Wir bauen Bühnen auf Balkonen, wo wir als DJs auflegen, musizieren, applaudieren, singen. Wir sprechen mit unseren Nachbarn durchs offene Fenster, reden über Gartenzäune hinweg, begegnen uns in Höfen. Lassen uns von einem Fitness-Trainer animieren, der auf einem Dach steht.
Wir nehmen uns ungefiltert physisch wahr, mit unseren Stimmen und Geräuschen, unseren menschlichen Bewegungen und können uns trotz des Abstands nah sein – als Gemeinschaft, als Nachbarschaft, als Mensch. Wir nehmen unsere Umgebung anders wahr, ohne den üblichen Verkehr entdecken wir mehr Details, die unser Gefühl von „Zuhause“und Vertrautheit verstärken.
Lebendigkeit auf Abstand – das geht.
Letztlich erkennen wir in dieser Zeit, wie unter dem Brennglas, was wir als „social beings“ brauchen – und was Architektur abseits der schalloptimierten Singlewohnungen mit Trittbalkon leisten kann. Lebendigkeit entsteht aus dem Gefühl des sozialen Verbundenseins und des sich selber lebendig fühlens, nicht aus der Frequenz von Fahrzeugen und Fußgängern. „Architektur und soziales Leben gehören zusammen.
Wir brauchen Distanz ebenso wie Nähe und oft geht es dabei um gefühlte Nähe. Lebendigkeit ist ein Qualitätsfaktor, den moderne Architektur im urbanen Kontext oft aus den Augen verliert“, sagt Architektin und Stadtgestalterin Julia Erdmann, die für diese Haltung die neue Disziplin „Socialtecture“ erfunden und entwickelt hat.
Mit ihrer Firma JES hat sie ein agiles Netzwerk an Vordenkern ins Leben gerufen – mit interdisziplinärer Expertise in Architektur und Stadtplanung, Kommunikation, Zukunftsforschung und Soziologie. Denn als Gesellschaft, findet Julia Erdmann, haben wir in den letzten Jahrzehnten beim Bauen oft den Menschen aus den Augen verloren. Die Stimmen dazu hören wir überall: über die Verteuerung der Städte, über die Verdrängung der Bewohner, über die Anonymisierung der Eigentümer, über die Gesichtslosigkeit der Architektur, über die Leb- und Lieblosigkeit neuer Quartiere, über die „Verklotzung“ der Städte.
Gebaut wird vor allem aus ökonomischen Interessen und selbst bei vordergründig sozialen Interessen, wie der Schaffung von mehr Wohnraum, kommen Quantitäten vor Qualitäten, stehen immer mehr Vorschriften vor gesundem Menschenverstand. Gleichzeitig gibt es unsere Sorge darüber, dass sich die Gesellschaft zunehmend spaltet, Demokratie und sozialer Frieden auf dem Spiel stehen. Immer bewusster wird uns auch die Klimakrise, die unser urbanes Leben mehr verändern wird, als wir uns heute vorstellen können.
Mit Socialtecture will Julia Erdmann hier ansetzen, eine andere geistige Haltung einnehmen und ein anderes Gesellschaftsbild zeichnen. „Wenn wir über Socialtecture sprechen, dann bedeutet das, die Stadt als Organismus zu betrachten, als Teil eines lebendigen, gesunden Ökosystems. Das verändert den Blick auf Architektur und Stadtgestaltung“, sagt sie.
Die Impulse, mit denen Socialtecture arbeitet, bilden diese Perspektive ab: Orte sind wie gute Freunde, Häuser können eine Familie sein, Gebäude sind Persönlichkeiten. „Ich habe in meiner langjährigen Arbeit als Architektin immer wieder bemerkt, dass Architektur oft das Wesentliche fehlt, nämlich das Menschliche. Stadtgestaltung heißt für mich, das räumliche und das soziale Potenzial zu erkennen und einen Beitrag dazu zu leisten, dass wir über Purpose, Mensch und Gesellschaft sprechen, aber vor allen Dingen beim Bauen in Städten auch entsprechend handeln.“
Socialtecture = Sechs Gebiete für gesunde städtische Ökosysteme
Socialtecture ist Haltung und neue Disziplin. Im Kern geht es darum, sechs Gebiete zu meistern: Die Kenntnis um uns Menschen (Human Studies) und unser Zusammenleben (Social Sciences), das Beherrschen von Ideen-Entwicklungs- (Co-Creativity) und Umsetzungsprozessen (Responsibility) und die Fähigkeit, Räume zu entwerfen (Space- making) und Orte zu gestalten (Place-making)
Dieser ganzheitliche Ansatz ist neu in der Architektur, Stadt- und Immobilienentwicklung. Julia Erdmann sieht ihn perspektivisch durchaus als Hochschuldisziplin, aktuell arbeitet sie mit ihrem JES-Team an einer eigenen „School of Socialtecture“.
Um komplexe Aufgaben mit Socialtecture anders zu lösen, hat JES beispielweise einen neuartigen Prozess als Ergänzung zu klassischen Architekturwettbewerben entwickelt: die Ideenmeisterschaft. In diesem Format entwickeln mehrere Architekturbüros co-kreativ, gemeinsam mit Experten (von Mobilität bis Nachhaltigkeit), externen Inspiratoren (von Neurowissenschaft bis Improvisation) sowie dem JES-Team neue, stadtstrategische Konzepte. Benutzung und Bebauung werden hier immer zusammen gedacht und gemacht, potenzielle Benutzer und Stadtbewohner durch digitale Tools eingebunden.
In den letzten Jahren sind unter anderem durch Socialtecture Impulse und Ideenmeisterschaften zukunftsweisende Ideen und Entwürfe für (relevante Orte in) mehrere Städte entstanden, beispielsweise für die Entwicklung der Bremer Innenstadt. Ebenfalls in Bremen, am dortigen Europahafenkopf, entsteht statt einer Unternehmenszentrale ein lebendiger, öffentlicher Ort. In Kiel entwickelt sich mit JES gerade aus dem Ursprungsgedanken eines geschlossenen Campus ein offenes Hofkonzept für eine aktive Stadtgesellschaft. In Hamburg entsteht ein Innovationscampus mit einem neuen Verständnis von „Arbeit“, im Zuge des eigenen JES-Projekts Hammer Summer wurden mit Hamburger Jugendlichen Visionen für das Hamburger Billebecken entworfen – inklusive Wassersport im Industriegebiet.
Was können wir jetzt für unsere Städte lernen, um es in die Zukunft zu retten? Zwei Ideen:
- Als Architekt*innen, Designer*innen, Stadtgestalter*innen Räume entwerfen, die uns Nähe und Abstand immer wieder flexibel einstellen lassen und die den Nutzer – und nicht die gebaute Umwelt – entscheiden lassen, wie viel Nähe sein darf, wie viel Abstand nötig ist.
- Mehr Dachterrassen, Balkone, Höfe, Gärten, Gemeinschaftsflächen planen. Kombiniert mit Natur in Fußentfernung, mit Rückzugsräumen und lärmfreien Zonen. Lebendige Orte, die uns das Gefühl geben, nicht alleine zu sein und gleichzeitig das Private respektieren.
Nähe und Distanz im Home-Office als Challenge
Wie sehr die gebaute Umwelt, der räumliche Rahmen, unseren Alltag bestimmt, zeigt sich nicht nur im Außen, im öffentlichen Leben – sondern auch aktuell verschärft im „Home Office“. Glücklich sind die, die (ein) Arbeitszimmer haben. Alle anderen machen aus der Not eine Tugend, Wohnräume zum Conference Room, Kinderzimmer zu Redaktionsbüros, Küchentische zur Chefzentrale.
Kein Arbeitsweg, weniger Pendeln, weniger CO2. Aber mehr Streit, weniger Platz, mehr Rückenschmerzen. Mit wenig Platz muss Nähe und Distanz, Arbeit und Privat, jeden Tag neu ausgepegelt werden: Jetzt mach ich die Tür zu, ab sieben kannst du hier wieder mit Lego bauen und bitte keiner (!) räumt scheppernd die Spülmaschine aus, wenn ich eine Telco habe!.
Wir klappen den Laptop garnicht mehr zu und haben keinen Arbeitsweg als Pufferzone zwischen To Dos und Paargespräch.
Was können wir jetzt für das Home Office lernen, um es in die Zukunft zu retten?
Zwei Ideen:
- Beim Planen von neuen Gebäuden, Quartieren, Nachbarschaften das Home Office als Selbstverständlichkeit gleich mitdenken. Wäre es nicht ein Gewinn, wenn jedes größere Wohnprojekt, jedes Quartier Räume hätte, in denen es sich gut arbeiten lässt, gemeinsam oder alleine, immer gesund, flexibel, share-able?
- Wohnungen mit flexiblen Raumlösungen entwerfen, die auch aufbegrenzten Quadratmetern eine Trennung oder ein Ineinanderfließen von Arbeit und Privat ermöglichen? Wenn wir jeden Raum zu dem machen könnten, was wir brauchen und die Architektur würde uns dabei helfen, ohne über die Nutzung zu bestimmen?
Socialtecture heißt: Mehr Lebensqualität pro Quadratmeter. Wenn wir in der Architektur und Stadtgestaltung mitdenken, was jetzt als Bedürfnis deutlich wird, können wir in Zukunft das Home Office zu einer echten, menschlichen und gesunden Alternative entwickeln. Und in unseren Städten nach der Krise noch bessere Rahmenbedingungen schaffen, um gesellschaftliche Herausforderungen unterschiedlichster Ausprägungen auch in Zukunft besser bewältigen können.
Nach der Krise wird es darum gehen, als Gesellschaft zusammenzurücken und die Solidarität, die wir in diesen Wochen spüren, bewusst aufrecht zu erhalten. Gute Orte, die uns als soziale Wesen Raum geben, können einen wichtigen Beitrag dazu leisten. Es ist Zeit für mehr Socialtecture.
Indra Musiol ist Innovationscoach, Kreativitätstrainerin und Kommunikationsexpertin. Als „Chief Curiosity Officerin“ unterstützt sie Organisationen dabei, neue Lösungen für komplexe Herausforderungen zu entwickeln – von Workshops bis zu ganzen Prozessen. Schwerpunkte ihrer Arbeit liegen in den Bereichen Schulentwicklung und Stadtgestaltung. Sie war viele Jahre lang Inhaberin einer Agentur. Heute ist sie als Trainerin in der Initiative Neues Lernen aktiv und passioniertes Mitglied des JES-Teams – mit dem Ziel, Socialtecture durch co-kreative Prozesse und gute Kommunikation voranzutreiben.