»Stell dir vor, du machst einen Witz und keine*r lacht«
In Online-Meetings ist das keine Seltenheit. Bis Jede*r die Mute-Funktion deaktiviert hat, ist der Witz längst vorbei. Und das ist nur ein Beispiel dafür, was die virtuelle Arbeitswelt zur Herausforderung macht.
Seit zwölf Wochen arbeitet ein gutes Viertel aller Beschäftigten in Deutschland zuhause. Damit hat sich der Anteil der „Home-Officer*innen“ verdoppelt: Vor Ausbruch der Pandemie lag er bei rund zwölf Prozent (Quelle: Uni Mannheim). Ist Corona also ein „New-Work-Booster“, wie manch Organisations- und Change-Berater*in frohlockt? Nicht wirklich. Das Virus hat das allgemeine Misstrauen gegenüber der Heimarbeit vielleicht ein Stück weit abbauen und die Digitalisierung der Arbeitswelt forcieren können, doch den Zielen der New Work-Bewegung – also Selbstständigkeit, Freiheit und Teilhabe – kommen virusbedingt nur wenige Berufsgruppen näher.
Laut Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik (FIT) arbeiten vor allem Beschäftigte aus den Bereichen Forschung und Entwicklung (48 %) sowie IT, Kommunikation und Medien (27 %) zuhause. Froh sind damit jedoch längst nicht alle, sondern vor allem jene Menschen, die keine oder große Kinder (ab 12 Jahren) haben und – tadaa, wer hätte das gedacht? – mehrheitlich Männer (Quelle: Fraunhofer FIT). Kein Wunder, denn den in der Krise ins gänzlich Unmögliche gedehnten Vereinbarkeits-Spagat unternehmen vor allem Frauen* und reduzieren – damit er ihnen nicht die Beine ausreißt – immer häufiger ihren Job (Quelle: WSI). Eine fatale Entwicklung, die alte Ungleichheiten verschärft, neue Abhängigkeiten und Armutsrisiken schafft.
Durch die einseitige Sinneskost der virtuellen Arbeitswelt könnten diese Effekte – so meine These – nochmals verstärkt werden könnte. Warum? Das versuche ich in diesem kurzen Essay aufzuzeigen.
Der Umzug ins virtuelle Großraumbüro ist mehr als ein Ortswechsel
Als ich vor 12 Wochen ins Home-Office zog, war die Veränderung zunächst kleiner als erwartet. Chatten, Mailen, Online-Meetings, kollaborative Dokumentenbearbeitung – all das ist schon vor Corona fester Bestandteil meines Arbeitslebens gewesen. Nun treffen wir uns eben nicht mehr in realen, sondern in virtuellen Räumen und haben sogar für die spontane Flurbegegnung und das Gespräch an der Kaffeemaschine ein digitales Substitut gefunden: die virtuellen Kaffeepausen und Home-Office-Selfies.
Die Umstellung von analog auf digital schien mir daher zunächst nur mehr Ortswechsel. Doch schon nach der ersten Woche war klar, dass das ein Trugschluss ist. Die Erschöpfung, die ich nach fünf Tagen virtuellem Großraumbüro empfand, war eine andere, als die am Ende einer Werkwoche im Büro. Der Grund dafür – so meine These – sind weniger die typischen Begleiterscheinungen der Digitalisierung, wie Informationsüberflutung, permanente Erreichbarkeit, chronisches Multitasking oder störungsbedingter Technikstress (Vgl. TAB-Bericht 2017). Auch das erschöpft natürlich, tritt aber in der „Betriebsstätte“ genauso auf wie daheim.
Der größte Unterschied zwischen Analog- und Digitalbüro – und meines Erachtens die größte Belastung und das größte Risiko – ist die einseitig reduzierte Präsenz der Welt. Wobei ich Präsenz im ästhetischen Sinne meine: als sinnlich erfahrbares Gegenüber, nicht als verfügbare Ressource à la „Präsenzkultur“.
Im Vergleich zum digitalen Arbeitsplatz ist das klassische Büro ein geradezu sinnesreicher Erfahrungsraum, zumal wenn es noch „enviromental enriched“ wurde. Im Digitalbüro beschränkt sich meine Sinnesaktivität aufs Sehen und Hören. Ich kann den Kaffeeduft aus der Küche und das Eau de Toilette meines Tischnachbarn nicht riechen, das rastlos wippende Bein meiner Kollegin nicht spüren und auch meinen sechsten, den Gleichgewichtssinn, spricht der digitale Arbeitsort nicht an.
Bei Kindern sind die Folgen einer solch unausgewogenen „Sinneskost“ (Hurrelmann) seit Langem bekannt: Sie beeinträchtigt die Sprachentwicklung, die (Psycho-)Motorik und die Wahrnehmungsfähigkeit (Quelle). Was sie mit Erwachsenen macht, scheint dagegen kaum erforscht.
Meine auf anekdotischer Evidenz basierende These ist, dass wir die fehlenden sinnlichen Qualitäten kurzfristig kognitiv kompensieren und darum am Ende eines Tages im Digitalbüro so viel müder sind als „unter Leuten“. Was die einseitige Sinneskost der digitalen Arbeitswelt langfristig mit uns macht, ist noch nicht absehbar. Dass sie etwas mit uns macht, davon bin ich überzeugt.
Die einseitige Sinneskost vermehrt die blinden Flecken in unserem Denken
Ob und wie wir uns in der Welt zurechtzufinden und anderen begegnen, hängt wesentlich davon ab, wie wir uns selbst im Verhältnis zur Welt wahrnehmen.
Der Mensch ist zur Welt, er kennt sich allein in der Welt. (Maurice Merleau-Ponty)
Dabei spielt die ganzheitliche Wahrnehmung mit allen Sinnen und dem ganzen Leib eine wichtige Rolle. Nehmen wir die Welt und uns selbst in der Welt nur noch mit unseren Augen und Ohren wahr, wird sich dies auf unser Selbst- und Fremderleben und damit auch auf unsere kognitiven Fähigkeiten und handwerklichen Fertigkeiten auswirken.
Für die Philosophin Chiara Zamboni ist die ganzheitliche sinnliche Erfahrung anderer Menschen konstitutiv für gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Entwicklungen. Ihre These, die sie am Beispiel des Feminismus exploriert, ist, dass erst ein „Denken in Präsenz“ volle Wirkungsmacht entfaltet:
Natürlich kann man Bücher und Artikel lesen, die vom weiblichen Denken handeln, aber man stellt doch fest, dass sie nur dann ein wahrer Maßstab für das politische Handeln werden, wenn man persönlich Frauen kennt, […]. Dann wandeln sich diese Texte, die ein Beitrag zur Kultur sind, in Orientierungen für eine lebendige Aktion. (Chiara Zamboni in: Denken in Präsenz | übersetzt von Antje Schrupp)
Die Journalistin und Politikwissenschaftlerin Antje Schrupp meint in Rekurs auf Zamboni, „dass neue Ideen oder auch neuer Sinn … nur entstehen können, wenn Sprache zirkuliert, wenn Worte wie Spielbälle hin und her fliegen können, Sätze vorläufig ausprobiert werden.“ (Quelle) Natürlich können wir auch ohne die leibliche Präsenz unserer Mitmenschen Neues erschaffen und Sinn hervorbringen. Das zeigt exemplarisch jede*r Nerd oder jedes einsame Genie. Doch für die Mehrheit wird die Abwesenheit der anderen – so befürchte ich – die blinden Flecken im Denken nochmals vermehren, weil unsere Erfahrungswelt dramatisch schrumpft.
In der interkulturellen Forschung wurde die Rolle und Bedeutung der physischen Begegnung umfassend erforscht. So hat etwa eine deutsch-französische Forschungsgruppe am Beispiel des Schüler*innen-Austauschs gezeigt, dass und wie die “Kopräsenz von Körpern im Raum” unseren Horizont erweitert, unser Verständnis für andere Lebensweisen, Gewohnheiten und Perspektiven stärkt sowie Ängste und Vorurteile abbaut (siehe: Begegnung mit dem Anderen. Orte, Körper und Sinne im Schüleraustausch, 2017). Auf den Punkt hat es der amerikanische Schriftsteller Marc Twain gebrachte:
„Reisen ist tödlich für Vorurteile.“
In der virtuellen Welt begegnen wir anderen nicht als leibliches Gegenüber, sondern nehmen sie als Bewegtbilder wahr, denen wir, wenn sie uns nicht passen, mit einem Klick oder Wisch aus dem Weg gehen können. Das erschwert die ernst- und mitunter auch schmerzhafte Auseinandersetzung mit Menschen, die anders sind, anders denken, fühlen, handeln. Im virtuellen Kontakt neigen wir eher dazu, alles Fremde abzuweisen und uns in unseren Vorurteilen zu bestärken. Es scheint, um es mit Marc Twain zu sagen:
„Virtualität ist tödlich für Offenheit und Empathie.“
Wenn ich mir vorstelle, dass das virtuelle Arbeiten in den wissensintensiven Bereichen Forschung und Entwicklung, IT, Kommunikation und Medien Standard wird, überkommt mich ein großes Unbehagen. Denn was dabei herauskommt, wenn man nur unter Seinesgleichen bleibt, hat die Nationale Wissenschaftsakademie Leopoldina kürzlich unfreiwillig vorgemacht: Ihre Empfehlungen zum Ausstieg aus der Corona-Krise spiegeln die blinden Flecken ihrer 26-köpfigen Kommission eins zu eins wider – und zwar indem, was darin nicht thematisiert wird: die Situation von Frauen*, Eltern, Kindern und Familien. 24 von 26 Kommissionsmitglieder sind Männer, das Durchschnittsalter liegt bei 60 Jahren. Welche Rolle das virtuelle Arbeiten hierbei gespielt hat, wäre noch zu untersuchen.
Eines aber ist klar: Wenn das virtuelle Arbeiten nicht dazu führen soll, dass wir dabei ganze Bevölkerungsgruppen und ihre legitimen Interessen und Bedarfe ignorieren, brauchen wir dringend Standards und Methoden gegen blinde Flecken.
Indre Zetzsche ist Moderation und Prozessgestalterin mit Schwerpunkt Open Innovation, Change, Digitalisierung, Dialog und Beteiligung. Die studierte Kulturwissenschaftlerin war als Führungskraft in verschiedenen inhabergeführten Beratungsunternehmen tätig; seit 2019 arbeitet sie bei der ]init[ AG, wo sie u. a. die Digitalisierung der Verwaltung im Rahmen des Onlinezugangsgesetzes begleitet. Daneben ist sie als Moderatorin und Trainerin (www.izetzsche.de) und für die Mobilitäts- und Verkehrswende aktiv. Indre Zetzsche lebt mit ihrer Familie in Berlin und betreibt zu ihrem eigenen Erstaunen seit mehr als 10 Jahren das Blog M i MA.