»time is now«
Govinda Hiemer hat gemeinsam mit seinem Team mitten im Corona-Sommer das virtuelle Schule ist Leben-Camp organisiert. Hier erzählt er uns davon, wie das Camp zustande kam und wie es ablief; es ist aber auch ein Zeugnis unserer Zeit. Jetzt ist die Zeit, um den (Bildungs-)wandel voranzubringen, denn nie waren die Herausforderungen sichtbarer. Die Pandemie hat eine ganz spezielle Dynamik in unser Leben gebracht. Im Sommer wurden innerhalb weniger Wochen ganze Online-Konferenzen aus dem Boden gestampft, Hackathons wurden zu Ideenschmieden und es wurde klar: Alles geht, wenn wir nur wollen.
Entstehungsgeschichte
Im letzten Sommer (2019) hatte ich das Vergnügen mit den Unternehmensdemokraten*innen Dr. Andreas Zeuch, Julia Heuritsch und schließlich Paul Carduck zusammen zu arbeiten, einer Unternehmensberatung, die Unternehmen in die Selbstorganisation führt. Da ich in verschiedenen Projekten, vom Waffelstand auf dem Weihnachtsmarkt über ein Software Startup, eine Führungskräfteentwicklung, ein dadaistisches Kunstfestival und meine Arbeit beim Govinda e.V. bereits unterschiedliche selbstorganisierte Arbeiten im Team erlebt hatte, erschien es mir unbedingt als sinnvoll, auch Anderen die Macht und Freude der Selbstorganisation zu zeigen. Weil ich Veranstaltungen und das Lernen liebe, und von Manuela Palla einiges über das Ausrichten großartiger Events gelernt hatte, begann ich die nächste von Andreas initiierte Veranstaltung “Neue Konzepte für Neue Arbeit” (NKNA) mit dem Fokusthema Bildung für das nächste Jahr zu planen. Hierfür setzte ich mich mit meinem Lehrer aus der Schule von damals, Stephan Portner, zusammen, holte mir Unterstützung von der Coachinginitiative – und dann kam Corona. Die diesjährige NKNA wurde auf nächstes Jahr verschoben und schließlich ganz abgesagt, ich feierte am 30.3. meinen 30. Geburtstag via Zoom, eine Woche lang war alles still, und dann ging es so richtig los.
Es war fast so, als stünde die Vernetzung und das voneinander Lernen im Vordergrund, nicht die Organisation einer virtuellen Veranstaltung.
Wir telefonierten mit Bildungsinitiativen, sammelten zukunftsfähige Schulen und trugen sie unter dem hashtag #Schulevonmorgen auf der Kartevonmorgen.org ein, stießen auf großen Vernetzungswillen und wuchsen in unserem Montagsmeeting immer weiter an. Der Druck im System war offensichtlich und wir nutzten den Zeitgeist. Wir widmeten die Veranstaltung rein dem Lernen und zogen sie auf den 26.09.20 vor, verblieben konsequent digital und nannten die Veranstaltung “Neue Konzepte für neues Lernen” (NKNL). Wir konnten Margret Rasfeld für die Eröffnungsrede gewinnen, blieben bis auf diese Rede so nah am Format eines Barcamps wie möglich und auch das ehrenamtlich arbeitende OrgaTeam wuchs beständig. Der Geist des gemeinsamen Arbeitens war von so viel Dynamik und Freude geprägt, und ich verlor gänzlich die Lust auf die Transformation von Unternehmen und wollte mich ausschließlich dem Bildungswandel widmen. So trennte sich mein Weg von dem der Unternehmensdemokraten*innen, und die “NKNL” entwickelte sich weiter zum “Schule-ist-Leben.Camp”.
Nachdem ich bereits die Hackathons WirVsVirus (D), VersusVirus (CH) und EUvsVirus genutzt hatte, um mit key2be.me ein Startup mit innovativem (zeitgemäßem) Konzept der Berufsorientierung zu unterstützen, freute ich mich sehr über den von Verena Pausder und Max Maendler initiierten “#WirfürSchule”-Hackathon. Endlich nicht bloß gegen, sondern endlich mal FÜR etwas, und nicht nur für etwas, sondern für ein Herzensthema in Co-Kreation arbeiten! Toll! Bereits eine Woche bevor es losging war ich im OrgaSlack und eröffnete mit Barbara Engel und Stefanie Klicks den Channel #wirksamevernetzung. So stand das Team bereits, als der Hackathon losging, und wir arbeiteten extrem viel und höchst motiviert an der systemischen Vernetzung des Bildungssystems. Wir gewannen hier keinen Preis gegen die anderen Teams, aber viel Vertrauen zueinander, und ein sehr eingespieltes Team als Rückenwind für die Orga des Schule-ist-Leben.camp. So überbrückten wir auch die Sommerferien spielerisch, lernten voneinander, miteinander und von anderen. Es war fast so, als stünde die Vernetzung und das voneinander Lernen im Vordergrund, nicht die Organisation einer virtuellen Veranstaltung. Alle brachten sich auf ihre Art, mit ihren Stärken und Verfügbarkeiten ein, und der 26.9. kam immer näher.
Der Wunsch nach Vernetzung der Bildungsinitiativen, mit denen wir sprachen, war dabei so laut, dass wir begannen, über die Gründung eines DACH-Verbands nachzudenken. Dies mündete vorerst in einem Treffen verschiedener Netzwerke am 27.09., aber dazu später mehr. Am Vorabend des 26.09. haben wir als pre-Event den Film CaRabA gesehen und danach mit dem Filmteam diskutiert. Danach war ich sehr aufgeregt. Ich fragte nachts im Bett liegend noch einen mir bis dahin unbekannten Organisator des Corporate Learning Camps, #CLC, einem Vorbild unseres Camps: “Wenn es eine Sache gibt, die er mir mit auf den Weg für das morgige Barcamp geben möchte, was ist das?” “Vertraue in die Selbstorganisation und dein Team!” war die prompte Antwort, und ich schlief glücklich und beruhigt ein.
Das erste Schule ist Leben Camp
9 Uhr geht’s los. Wir öffnen den Raum, um Ankommende bereits zu begrüßen, sind zu mehreren als Team auf der virtuellen Bühne und plaudern. Das gemeinsame Gespräch beruhigt uns, und das ist gut, denn der Tag bietet viele Herausforderungen für uns alle. Schöne Herausforderungen, vielseitige Herausforderungen, unbekannte Herausforderungen. Aber ganz nach Pippi Langstrumpf: Wir hatten es noch nie gemacht, also wussten wir es wird gut.
Es war chaotisch, aufregend, und hat ziemlich gut funktioniert.
Um 9:30 Uhr haben wir mit der Einführung begonnen, wir wussten wer was zu sagen hat. Wir wussten nicht, dass Margret uns mehr Zeit lassen sollte als wir ursprünglich dachten, aber kleine Veränderungen konnten wir problemlos überbrücken. Margret kam, wir verließen die Bühne und es gab eine feurige Eröffnungsrede. Wow! Schon weit über 100 Menschen waren online und ließen sich anzünden, die Energie des Bildungswandels war geradezu greifbar und dann ging es los. Die erste Runde Lagerfeuer stand an, die Anzünder*innen kamen in den virtuellen Backstage und wurden für je 20 Sekunden auf die Bühne gelassen, um ihre virtuellen Lagerfeuer anzukündigen. Es war chaotisch, aufregend, und hat ziemlich gut funktioniert. Klar, Luft nach oben ist immer, aber gerade als Veranstalter hat man natürlich sein Augenmerk eher auf dem Entwicklungspotenzial.
Um 11 Uhr beginnen die ersten Lagerfeuer. An den Lagerfeuern wird über den Zusammenhang von Schule und der Arbeitswelt von morgen diskutiert, über indigene Pädagogik, den Abschied von Schulbüchern, digitale Berufsorientierung, Partizipation von Schüler*innen, Theorie U, Grundvoraussetzungen für Lernen & Entwicklung, zauberhafte Physik, Glück als Schulfach, Schulentwicklung durch gegenseitige Besuche, eduScrum, Schulveränderung und noch einiges mehr.
Bereits diese eine Stunde bietet so viel Feuer, dass Entscheidungen für ein einziges Lagerfeuer völlig überfordern. Und um 12 Uhr geht es gleich ähnlich weiter, der Schulwandel wird in vielen Facetten an über 15 Lagerfeuern von über 150 Menschen diskutiert, im Programm können die Titel der Lagerfeuer noch eingesehen werden. Projektunterricht, digitales Lernen an freien Schulen und vieles mehr wird diskutiert, und auch Schüler bieten Lagerfeuer an. Überhäuft von Eindrücken geht es um 13 Uhr in die Mittagspause, jetzt beginnen die digitalen Hängematten. Es gibt Musik, Entspannung, ein vielseitiges Pausenprogramm hat sich zusammengefunden. Auch den Film “Augenhöhe macht Schule” kann man schauen, auch hier steht das Filmteam zur Diskussion bereit.
In einer lernenden Organisation zu lernen bereitet schnell richtig Freude.
Jeweils vor den Lagerfeuern wurde auf der virtuellen Bühne von Mitgliedern des OrgaTeams und den Anzünder*innen anmoderiert, was für die nächste Stunde zu erwarten sei. Auch spontan konnten noch Lagerfeuer hinzukommen, im Grunde sollten bei einem anständigen Barcamp ja alle Sessions spontan entstehen. Um mit dieser Freiheit jedoch nicht gänzlich Überforderung auszulösen (so ist es mir auf dem Kunstfestival gegangen, dessen Programm ebenfalls spontan von den Teilgebenden erstellt wurde), hatten wir bereits vorab Lagerfeuer organisiert. Um 14 Uhr und um 15 Uhr folgen erneut zahllose Lagerfeuer zu sehr spannenden Themen, der Überfluss an Wahlmöglichkeiten lässt mich noch immer wohlig lächeln, die angebotenen Themen würde ich noch immer sehr gern besuchen. Aber gut (achtung spoiler!), es folgen ja noch weitere Camps.
Nach den Lagerfeuern haben wir uns dann alle auf der Bühne versammelt, zu einem Kaleidoskop der Reflektion. Was haben wir gut gemacht (die warme Stimmung des OrgaTeams in das Event getragen), wo können wir noch lernen (die Technik darf weiter entwickelt werden (die Betreuung war toll, aber mit der Digitalisierung tut man sich gelegentlich noch ein wenig schwer) und die Vor- und Nachbetreuung sind noch ausbaufähig) und was wünschen sich die Menschen für die Zukunft der Veranstaltung? Wir zumindest wünschen uns eine hybride Ausrichtung mit der Möglichkeit, in Schulen am Camp teilnehmen zu können und so Schulen den Raum zu bieten, von- und miteinander zu lernen. Denn in einer lernenden Organisation zu lernen bereitet schnell richtig Freude.
Nach dieser erstaunlich gut besuchten Reflektionsrunde (Ich kenne es von Veranstaltungen, dass oft ein großer Teil schon im Laufe der Veranstaltung weiter zieht. Das Camp schien gut zu fesseln.) gab es noch eine sehr beschwingende Rede von Thomas Sattelberger, MdB, und den Film “Circleways” als Ausklang, der verschiedene Gemeinschaftsformen zeigt. Auch hierzu gab es eine Diskussion mit den Filmemachern, allerdings erst am nächsten Tag. Der Input war überwältigend und durfte erstmal verarbeitet werden.
Aufgrund des unbedingten Wunsches zur Vernetzung der kontaktierten Initiativen haben wir, wie oben erwähnt, über die Gründung eines DACH-Verbands nachgedacht. Dieser sollte zwar angelehnt sein an den politischen Begriff, aber weniger als hierarchisches Dach fungieren, sondern den Mitgliedern ihren Stallgeruch lassen. Vor unserem geistigen Auge sah dieser Verband also eher wie ein indonesisches Rathaus aus: Ein Dach ohne Wände, das zur Zusammenkunft einlädt. Und letztlich sollte der Name den deutschsprachigen D-A-CH-Raum meinen.
In der Vorbereitung des Camps ist dieser Teil der Idee dann ein wenig hinten angestellt worden, und die vorerst für den 27.9. angedachte Gründungsveranstaltung für einen DACH-Verband (inspiriert von der Gründung der Stiftung Verantwortungseigentum, sollte der Verband von vielen gemeinsam gegründet werden) wurde ein Treffen der Netzwerke aus der Bildung aus diesem Termin. Am 30.10.2020 gibt es ein erneutes Treffen dieser Netzwerke, im Ausblick mehr dazu.
Da wir Kosten hatten, auch unabhängig der von über 30 Menschen ehrenamtlich eingebrachten Arbeitszeit, geht am Sonntag Abend ein Krimi zu Ende: Das Crowdfunding wird zwei Stunden vor Ablauf erfolgreich beendet, die Kosten des Camps sind somit gedeckt. Einen Filmworkshop konnten wir Dank der Unterstützung der Dräger-Stiftung verlosen. Hierzu mehr beim nächsten Schule-ist-Leben.camp am 27.3.2021. Happy End (vorerst). 🙂
Für die weitere asynchrone Vernetzung haben wir einen Telegram-Kanal angelegt und legen edusiia.com ans Herz. Hier gibt es auch eine Gruppe für das Schule ist Leben Camp. Bei Fragen hierzu wendet man sich am besten an Anna Papadopoulos und liest hier ihren Artikel. Kommt dazu, den Bildungswandel können wir am besten gemeinsam gestalten!
Zusammenfassung & Ausblick
Der Tag war ein voller Erfolg und hat die Energie des selbstorganisierten Teams wunderbar weiter getragen. Es gibt sie, die Bildungsenthusiast*innen, die an einer zukunftsfähigen und würdevollen Bildungswelt arbeiten! Gemeinsam kann eine Transformation der Bildungs- und Arbeitswelt gelingen!
Wir tun nicht, was andere uns sagen, sondern was wir vorgelebt bekommen.
Gut 350 Menschen sind bei diesem ersten Schule-ist-Leben.camp zusammen gekommen, über 800 Menschen waren angemeldet. Die Technik hat fast durchgängig funktioniert, und das OrgaTeam und sehr viele Teilnehmer hatten große Freude dabei. Das OrgaTeam hat sich dabei in der Zeit der Vorbereitung, obschon über den ganzen deutschsprachigen Raum verteilt, in vielen Momenten auch persönlich getroffen und sinnvoll und wirksam miteinander vernetzt. Denn wir wissen alle: Wir tun nicht, was andere uns sagen, sondern was wir vorgelebt bekommen. Und systemisch betrachtet bildet das Team eine sehr starke Gemeinschaft, auch wenn einzelne das Team nach der Veranstaltung wieder verlassen haben und sich auf ihre anderen Wirkungsfelder fokussieren. Das macht es lebendig und ehrlich, denn alle sind und waren freiwillig dabei. An dieser Stelle noch einmal: Vielen herzlichen Dank an alle, die dabei waren und an alle, die unterstützt haben, was das Zeug hält. Ich bin schwer beeindruckt (sic!) und freue mich bereits auf die weitere Zusammenarbeit und das nächste Schule ist Leben Camp. 🙂
Das nächste Camp soll übrigens hybrid stattfinden, und ganze Schulen und noch mehr junge Menschen werden daran teilnehmen. So können sich Bildungseinrichtungen und -initiativen gern bei uns melden und anbieten, einen virtuellen Zugang zum Bildungsforum zu stellen, damit auch physische Räume in das Camp eingebunden werden. Somit wird ein Raum geöffnet und gehalten, der Bildungseinrichtungen das Lernen von- und miteinander erleichtert. Denn nicht nur junge Menschen brauchen Raum zur Entfaltung, auch Organisationen.
Wir überlegen sogar mit einem Reisebus und einem Filmteam an verschiedene, zukunftsfähige Schulen zu fahren und dort Barcamps auszurichten, um die Schulen auf die Teilnahme am Schule ist Leben Camp vorzubereiten, und/oder dort vom Filmteam aus der Perspektive der jungen Menschen die zukunftsfähigen Aspekte sichtbar zu machen. Vermutlich wird dies erst im Sommer klappen, aber eine Tour durch den deutschsprachigen Raum steht an sich an. Es wäre mir ein Fest!
Es braucht gar nicht viel Neues, die Vernetzung des Guten, bereits Vorhandenen, sowie das von- und miteinander Lernen, dürfte als Grundlage bereits weitreichende Folgen haben.
Das Netzwerktreffen am 27.9.20 trägt ebenfalls weitere Früchte. So haben wir von der Gründung eines DACH-Verbands vorerst abgesehen und nutzen nun den Korpus des Bundesverbands innovative Bildungsprogramme. Diesen bereits bestehenden Zusammenschluss verschiedenster Bildungsinitiativen gedenken wir zwar immer noch auf den deutschsprachigen Raum auszuweiten, aber auch hier bleiben wir unserem Motto treu: Es braucht gar nicht viel Neues, die Vernetzung des Guten, bereits Vorhandenen, sowie das von- und miteinander Lernen, dürfte als Grundlage bereits weitreichende Folgen haben. Im Bereich der Bildung ist offensichtlich, was in anderen Branchen noch weniger einleuchtend ist: Das gemeinsame Ziel. Natürlich gibt es einzelne Initiativen mit einzelnen Zielen, doch alle zahlen mehr oder weniger direkt auf die Bildung unserer Zukunft ein. Mächtige Werkzeuge wie die Co-creation sind also gut einsetzbar, Kooperationen schnell und sinnvoll zu schließen und gemeinsam können wir wirksam unsere Zukunft gestalten. Sei dabei!