»Total deep«

  • 19.02.2020
  • von christiane kuerschner
Dr. Simone Burel erzählt im Interview über ihr Deep Tech-Unternehmen und die Möglichkeiten der Zukunftstechnologien ...
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Was machen eigentlich Unternehmen aus der Deep-Tech-Szene? Und wie wird die Technologie in Zukunft Teil unseres Lebens werden? Wir sprachen darüber mit Simone Burel, die KI mit linguistischer Analyse kombiniert. 

Liebe Simone, Deep-Tech-Startups werden oft als etwas mysteriös beschrieben: Das sind die genialen Köpfe, die im Hintergrund an neuen und grundlegenden Technologien arbeiten, die schon bald in der Industrie zum Einsatz kommen. Das Ganze scheint komplex zu sein. Kannst du den Versuch wagen, zu beschreiben, was sich unter Deep Tech verstehen lässt?

“Den Versuch wagen” trifft es ganz gut, denn eine eindeutige Definition für Deep Tech gibt es nämlich (noch) nicht. Unter dem Begriff Deep Tech werden üblicherweise technologische Innovationen aus ganz verschiedenen Bereichen zusammengefasst. Deep-Tech-Unternehmen beschäftigen sich mit Themen, die in Zukunft immer wichtiger werden, wie z. B. Robotik, Drohnen, Quantencomputing, KI und sie entwickeln Technologien, die diese Bereiche vorantreiben. Deep Tech wird häufig auch als “Enabler-Technologie” bezeichnet, d. h. als die Technologie, die die Basis für grundlegend Neues schafft. 

Du bist die Gründerin von LUB, der nach eigener Aussage ersten linguistischen Unternehmensberatung in Deutschland. Was genau ist euer Angebot und wie arbeitet ihr mit Deep Tech?

LUB ist die erste Unternehmensberatung in Deutschland, die Zahlen, Sprache und Texte gleichsam auswertet – denn Business Data bestehen zu 80 Prozent aus Wörtern. LUB entwickelt auf dieser Datenbasis innovative Strategien und Umsetzungsmaßnahmen für nachhaltiges Wirtschaften. Wir kombinieren klassische linguistische Analyse mit Ansätzen aus der KI (v. a. Machine Learning) und Business Intelligence, die denen der Korpuslinguistik sehr nahe kommen. In über dreizehn Milliarden Belegen aus gegenwartssprachlichen Textkorpora erkennen wir Informationsschätze; im Bereich HR arbeiten wir eng mit unserem Softwarepartner „100 Worte Sprachanalyse“ und deren Psychological AI zusammen.

Gewöhnlich läuft unsere Arbeit in vier Schritten ab: Datenauswahl, Textanalyse, Report und Implementierung.

Neben strukturierten Texten wie der Erstellung oder Optimierung von Stellenanzeigen, Leitbildern oder Nachhaltigkeitsberichten können wir mithilfe unseres Technologiepartners “100 Worte Sprachanalyse“ auch unstrukturierte und dialogische Textarten wie Social-Media-Posts, Service-Center- oder Chatbot-Protokolle analysieren und auf gewisse Parameter hin (automatisch) anpassen.

Die Ergebnisse der Analyse bereiten wir in einem strukturierten und leicht verständlichen Report auf, der Texttendenzen, Standardisierungsmöglichkeiten und zielgruppenspezifisches Wording anzeigt. In der Implementierungsphase geben wir dann genau diese wichtigen Hinweise, welche Wörter, Sätze oder ganze Textpassagen angepasst werden müssten, um Sprache besser (verständlicher, zielgruppenorientierter) und teilweise automatisierbar zu machen. Gerade der letzte Schritt unterscheidet uns von unseren Mitbewerber*innen, da hier sehr viel linguistische Expertise gefragt ist und wir dabei auch qualitativ mittels Sprachleitfäden oder Kommunikationsschulungen arbeiten.

Was unterscheidet Deep Tech von bisherigen Technologien? Wie groß ist der Entwicklungssprung?

Deep Tech zeichnet sich durch einen viel höheren Innovationsgrad aus als die bisherigen, “herkömmlichen” Technologien. Die bisher vorhandenen Technologien werden heute im Prinzip von jedem Unternehmen verwendet, das digital arbeitet. Diese Technologien sind aber in der Regel nicht eigens für das jeweilige Unternehmen entwickelt worden, sondern beruhen auf schon vorhandener Software. Außerdem ist die Technologie in diesen Fällen häufig nur ein Mittel, um die eigentliche Geschäftstätigkeit zu unterstützen und im besten Fall zu vereinfachen.

Wenn wir beispielsweise an ein beliebiges Unternehmen denken, das online seine Produkte verkauft, sehen wir, dass die Geschäftstätigkeit an sich, nämlich der Verkauf von Waren oder Dienstleistungen, dabei gar nichts mit Digitalisierung und Technologie zu tun hat. Das ist bei Deep Tech-Unternehmen anders. Hier ist die Technologie innovativ und macht das Kerngeschäft aus. Daher bezeichnen wir viele unserer Projekte auch als explorativ und hochindividualisiert, weil wir keine Standardlösungen, sondern individualisierte Lösungen verkaufen.

Der hohe Innovationsgrad von Deep-Tech-Produkten ist aber auch das, was Risiken birgt, oder? 

Klar, Risiken bestehen immer in einer unternehmerischen Tätigkeit. Wir haben bei LUB drei unterschiedliche Bereiche, in denen Deep-Tech-Services gefragt sind: CSR & Nachhaltigkeit, Mensch & Maschine (Chatbot-Kommunikation) und HR & Gender. Gerade im Bereich Mensch-Maschine bedarf es innovativer Ansätze, bei denen wir nicht auf Standards zurückgreifen können, weil es diese einfach noch nicht gibt, z. B. Servicebots für Banken oder kommunale Chatbots, für die wir Personality, Happy Paths und dazugehörige Texte erstellen und diese trainieren. Dies sind explorative Projekte, bei denen wir – auch je nach der Bereitschaft der Kunde oder Kundin bezüglich der Risiken – agil mit Prototypen arbeiten und nicht immer standardisiert vorhersagen können, wie das Resultat aussehen wird.

Es kommt dabei zum Beispiel auch darauf an, welche Kommunikationsgewohnheiten die Zielgruppe hat, sodass wir in Testing-Phasen immer wieder nachjustieren müssen. Außerdem haben viele Menschen noch nicht verstanden, dass sich Kommunikationsgewohnheiten ändern. User*innen wollen eher chatten als telefonieren. Dies erfordert aber eine andere Art der Informationsaufbereitung. Texte werden außerdem kürzer und orientieren sich eher an mündlicher Sprache. Gerade im Bereich der Chatbots wird Sprache auch spielerischer und neue Wortbildungen müssen permanent integriert werden. Diese sprachlichen Trends nehmen wir als Linguist*innen in unserer Entwicklung und Betreuung sprachlicher Projekte sehr ernst.

Good data beats opinion, daran glaube ich.

Allerdings muss künstliche Intelligenz zum jetzigen Zeitpunkt immer noch mit menschlicher Intelligenz verknüpft werden. Diese Verknüpfung leisten wir und machen uns daher nicht komplett von Maschinen abhängig. Wir können solide Projekterfolge und eigene Forschungen vorweisen, sind 100 Prozent eigenkapitalfinanziert – das macht uns wesentlich unabhängiger als andere Player*innen am Markt.

Braucht es im Zuge der rasanten Entwicklung eine Ethik der KI? Schließlich verändert sich mit Deep Tech auch die Zusammenarbeit zwischen den Menschen enorm?

Ethik ist immer wichtig – im Arbeitskontext ebenfalls – gerade wenn nun neue Existenzformen wie Maschinen nicht nur als Objekt, sondern stärker auch als Subjekt auf den Markt kommen! Im Oktober 2019 habe ich bereits ein Statement zu den zehn Richtlinien verfasst, die der Ethikbeirat HR-Tech der Bundesregierung zu Einsatzmöglichkeiten von KI in der HR-Arbeit und zum verantwortungsvollen Umgang mit KI im HR-Management erarbeitet hat.

In Deutschland sind mediale Berichterstattung und Diskussionsrunden zum Thema KI leider bis jetzt vor allem stark von der Betonung dystopischer Zukunftsszenarien dominiert, z. B. in der Singularity-Debatte (Mensch oder Maschine?). Umso wichtiger scheint es mir, diesen Diskurs fachlich zu rahmen und mit soliden Argumenten die Angst vor Deep Tech zu nehmen. Es werden Veränderungen durch Deep Tech in der Zusammenarbeit zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Maschine in den nächsten Jahren entstehen, für mich überwiegen jedoch die positiven und nützlichen Impulse für die Arbeitswelt.

Um ein konkretes Beispiel zu nennen: KI kann nicht nur helfen, gefährliche oder medizinische Arbeiten zu unterstützen und dadurch Menschenleben retten, sondern auch Diskriminierung verhindern. Unser Gender Decoder erkennt beispielsweise automatisch diskriminierendes Sprachmaterial, was beim Recruiting, bei der Beförderung oder der Bezahlung eine große Rolle spielt. Hierdurch können wir Stellenanzeigen sprachlich so formulieren, dass sich alle Geschlechter angesprochen fühlen und sich bis zu 30 Prozent mehr Frauen darauf bewerben. Das setzt natürlich voraus, dass Maschinen und Menschen gut trainiert, reguliert und permanent nachgeschult werden – negative Emotionen und Panikmache nützen hier wenig. Die Old Economy wird auch das irgendwann verstehen. Um dieses Thema voranzutreiben, wurde ich 2020 in den Wirtschaftsbeirat von Baden-Württemberg International berufen.

Wie wird unter der Weiterentwicklung von Deep Tech das Arbeiten in 50 Jahren aussehen und welche Rolle wird Arbeit in der Zukunft spielen?

Wie genau die Arbeitswelt und wie Arbeit soziologisch in 50 Jahren aussehen wird, kann natürlich niemand vorhersagen. Aber einige Tendenzen und Zukunftsentwürfe lassen sich auf jeden Fall schon jetzt ausmachen. Vielfalt, abseits von Monokulturen, ist für das langfristige Funktionieren von Gesellschaften und Organisationen von wesentlicher Bedeutung – das bezieht sich nicht nur auf das Verständnis von Geschlechterrollen (Gender Balance), sondern auch auf alle anderen menschlichen Existenzbereiche wie die Vorstellungen von Raum und Zeit, Aktivitäten und Beruf, Konsum und Ernährung, Liebe oder Kultur. Auch stark machtbesetzte Bereiche wie Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Medizin werden davon stark betroffen sein.

Für mich lauten die zentralen Schlagwörter der Zukunft daher Toleranz und Transparenz.

Um es anschaulicher zu machen: Die Vorstellung der Trennung von Arbeit und Freizeit und die Aufwertung der entlohnten Arbeit zum entkoppelten Selbstzweck ist ein sehr neuzeitliches und auch westliches Phänomen. In anderen Kulturen und Epochen war dies nicht der Fall und Arbeit diente zum reinen Broterwerb bzw. war in die Hauswirtschaft inkludiert (Ökonomie stammt übrigens auch von oikos (gr.) Haus). Maschinen können bereits heute standardisierte und regelbasierte Tätigkeiten sehr gut und auch teilweise besser übernehmen als Menschen. Daher werden in Zukunft viele Jobs, die diese Tätigkeiten enthalten (viele davon im Niedriglohnsektor) durch Maschinen ersetzt werden, sodass Maschinen Autos bauen, Maschinen operieren, Maschinen Menschen pflegen. Für Menschen bleibt demnach mehr Zeit, sich anderen Tätigkeiten zu widmen, sodass ein neues Verhältnis zur Arbeit entsteht.

Neue Arbeitszeitmodelle (geteilte Führung, Teilzeit, digitale Büros, Vernetzung von überall möglich, physische Anwesenheit nicht unbedingt nötig) sind bereits jetzt ein Zeichen, dass die starke physisch-zeitliche Präsenz der Arbeit abnimmt und Menschen sich auch anderen Sinnentwürfen widmen. Hierzu nutzen sie wiederum auch Deep Tech, bspw. wenn sie durch Matching-Algorithmen Partner*innen kennenlernen, Weltreisen oder Autos buchen, den oder die digitale Coach*in/Therapeut*in treffen, ihre Einkäufe digital erledigen oder sich die passenden Serien streamen lassen.

Durch Deep Tech wird alles individualisiert, weil eigene Bedürfnisse und historische Daten berücksichtigt werden können. Die Frage wird bei allen Diskussionen dennoch sein: Wie sehr kann eine Maschine emotionale Intelligenz abbilden (was sie derzeit noch nicht kann) und wie weit wollen wir als Menschen mit Maschinen verschmelzen? An diesen zwei Fragen wird sich vieles entscheiden.


Dr. Simone Burel ist Geschäftsführerin der LUB GmbH – Linguistische Unternehmensberatung, die sich auf innovative KI-gestützte Beratungsansätze in den Bereichen HR & Gender, CSR & Nachhaltigkeit sowie Mensch-Maschinen-Kommunikation spezialisiert hat. Für ihre Forschung und Praxisarbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Daneben agiert Simone Burel als Autorin, Beirätin, Mentorin an verschiedenen Universitäten und in der Weiterbildung zu den Themen Gender, Sprache & Digitalisierung für Konzerne und Ministerien.

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