»status quo new work«
Herzlich willkommen auf diesem kleinen Kurztrip und schön, dass ihr dabei seid! Ich bin mindestens genauso gespannt wie ihr, wohin die Reise führen wird, und was wir auf dem Weg alles entdecken und erleben werden. Doch in einem Punkt bin ich mir recht sicher: Bei der hügeligen Landschaft, die uns umgibt, bleibt es sicher spannend. Denn man weiß nie so genau, was sich hinter der nächsten Kurve oder dem nächsten Gipfel verbirgt. Die „Landkarte“, mit der wir gleich loswandeln, basiert auf den Daten einer deutschlandweiten Umfrage im Zeitraum Januar bis März 2021 unter transformativ arbeitenden Unternehmungen (TAU) in Deutschland. Nun aber los – und viel Spaß und Freude bei diesem kleinen Kurztrip, der hoffentlich ein paar bereichernde Eindrücke und Ausblicke für euch bereithält!
Koordinaten und Ausgangsposition
Wir starten an der Wegkreuzung zwischen Fragen nach Möglichkeiten, Arbeit anders zu gestalten und Fragen nach einer sozialökologisch gerechteren Wirtschaftsweise. Denn wenn wir uns einmal genauer umschauen, sehen wir doch sehr deutlich, dass die Burnout-Raten steigen und unsichere und prekäre Arbeitsbedingungen immer mehr zur Regel als zur Ausnahme werden (Brady & Biegert, 2017; Banls, 2018). Zusätzlich zu den sozialen Kosten sehen wir auch die hohen ökologischen Kosten, die unsere derzeitige wachstumsorientierte Wirtschaftsweise verursacht (Meadows et al., 1972; Göpel, 2016).
Doch die gute Nachricht ist: Wenn wir arbeiten, sind wir mehr als nur „Humanressourcen“.
Wir können durch unser Handeln und unsere Entscheidungen Einfluss auf Wirtschaftsstrukturen nehmen – sie dadurch (mit-)gestalten und verändern. Transformation im Sinne von verstärkter sozialökologischer Gerechtigkeit kann also nicht nur als passives Geschehen, sondern als bewusster und intendierter Prozess verstanden werden (Feola, 2015; Brand et al., 2020). Durch den zentralen Stellenwert von (Lohn-)Arbeit in derzeitigen Struktur kommen arbeitende Menschen daher in eine Schlüsselposition, um transformativ wirken zu können.
Besonders spannende Beispiele sind Unternehmungen/Betriebe, in denen die dort arbeitenden Menschen maximale Wirkkraft in Entscheidungen und Handlungen haben. Zwei zentrale Unterscheidungsmerkmale zu “herkömmlichen” Unternehmen sind dabei, dass
1. alle Beteiligten (gleichwertige) finanzielle Eigentümer*innen der Unternehmung sind
2. Entscheidungen gemeinsam und demokratisch getroffen werden.
Unsere „Landkarte“ zeigt allerdings, dass diese Kriterien auf sehr unterschiedliche und vielfältige Art und Weise ausgelegt und umgesetzt werden. Wie wir noch deutlicher sehen werden, kann man TAU also eher als ein buntes Spektrum als eine einheitliche Kategorie denken.
Umweltbedingungen und Landmarken
Doch unter welchen Bedingungen kann man hier in Deutschland denn eigentlich loswandeln? Wo und wie läuft es sich besonders gut? Welche Unebenheiten und Stolpersteine muss man beachten?
Recht eindeutig zeigt sich, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen nicht die günstigsten für die geplanten Wandelungen der Arbeitswelt sind. Vor allem in Sachen Eigentumsrechte und gleichwertige finanzielle Beteiligung erschweren die gegebenen Umweltbedingungen in Form von rechtlichem und institutionellem Rahmen eine Umsetzung der beschriebenen Idealform deutlich.
Meist gewählt sind die klassische GmbH mit ca. 23,42% und die eingetragene Genossenschaft (eG) mit 15,82%, dicht gefolgt vom eingetragenen Verein (e.V.) mit 15,19%. Bei der Begründung für die Wahl der Rechtsform deuten die Ergebnisse auf ein starkes Abwägen zwischen Idealen und praktischer Umsetzung hin. Es handelt sich also meist eher um einen Kompromiss als um die Wunschform. Dabei zeigt sich im Umgang mit diesen an manchen Stellen eher ungünstigen Witterungsverhältnissen allerdings auch ein hoher Grad an Kreativität – und wie viel man bewirken kann, wenn man sich zusammen für ein gemeinsames Ziel einsetzt.
Zusätzlich erschweren Stolpersteine aus wachstumsorientierten Marktlogiken, die von 31,01% als größte externe Herausforderung wahrgenommen werden, ein angenehmes Wandeln. Auch hier kommt es oft zu Kompromissen: sozialökologisch gerecht wirtschaften bei gleichzeitigem Erhalt der Unternehmung – und damit auch der eigenen Lebensgrundlage.
Doch auch wenn die Wege manchmal etwas beschwerlich und unbefestigt erscheinen, zeigen die Umfrage-Ergebnisse auch eindeutig, dass sie begehbar sind – und das sogar branchenübergreifend und weitestgehend ortsunabhängig. So finden sich TAU deutschlandweit in kleinen und größeren Städten (besonders viel in Berlin) und sowohl in ländlichen als auch in städtischen Regionen.
Was die Branchen betrifft, sind sowohl der Dienstleistungs- als auch der Bildungssektor stark vertreten. Da die Option für mehrere Antwortmöglichkeiten bestand, beinhaltet der hohe Anteil im Bildungsbereich auch alle, die Bildung neben Tätigkeiten in anderen Bereichen betreiben. Darüber hinaus sind die Gastronomie-, Lebensmittel- und IT-Branche noch gut vertreten. Insgesamt handelt es sich dabei um Branchen mit eher wenig (internationalen) Zulieferketten und geringen Abhängigkeiten von anderen Firmen oder Sektoren. Eine weitere Gemeinsamkeit liegt in der eher geringen Unternehmensgröße: 51,27% der befragten TAU können als „Mikro-Unternehmen“ und 36% als Kleinunternehmen kategorisiert werden. Doch klein, aber fein! Besonders vor dem Hintergrund, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung ohnehin in KMUs eingestellt ist (Destatis, 2019), in denen transformative Arbeitsstrukturen, wie wir sehen, problemlos umsetzbar sind.
Ausstattung und Gepäck
Genauso vielfältig wie die Branchen, Orte und auch die Menschen in den befragten TAU scheinen auch die Entscheidungsfindungsmodelle. Gerade darin liegt auch für viele der Wert: gemeinsam zu entscheiden, was für alle Beteiligten und die gemeinsame Unternehmungen am angenehmsten und wirksamsten funktioniert. Doch trotz aller Unterschiedlichkeiten gibt es ein paar Dinge, die doch die meisten ‚mit im Gepäck haben‘.
Dazu gehören
- klar zugeordnete Verantwortungs- und Tätigkeitsbereiche
- ein hoher Grad an Transparenz
- regelmäßiger offener Austausch und gute Kommunikation
- klare und festgeschriebene Regelungen für mögliche Konfliktfälle
- Fokus auf vertrauensbasiertem Arbeiten statt auf Kontrolle
Leider wirken sich die beschriebenen rechtlichen Rahmenbedingungen auch auf die internen Strukturen aus. Besonders mit der Rechtsform verbundene Haftungsverantwortungen können eine Herausforderung sein. Doch ein norddeutsches Sprichwort besagt: „Es gibt kein falsches Wetter, es gibt nur falsche Kleidung.“ Ähnlich scheinen es die untersuchten TAU in Deutschland auch zu sehen.
So zeigt sich an vielen Stellen ein unglaublich kreativer Umgang mit den gegebenen Umständen, z. B. in Form von verschiedenen Binnenverträgen oder Rechtsformkombinationen. Kreativität, Offenheit, Experimentierfreude und ein gewisses Quäntchen Mut sind also zusätzlich fester Bestandteil der Ausstattung – und natürlich die Gewissheit, dass man den Weg nicht alleine gehen muss und das Gewicht des Rucksack nicht nur auf einem paar Schultern lastet.
Wegweiser und innerer Kompass
Und wie entstehen nun diese Wege zum Wandeln und Transformieren? Was hilft dabei, nicht die Orientierung zu verlieren und sich (immer wieder aufs Neue) auszurichten?
Der Grund dafür, loszuwandeln und die (eigene) Arbeitskultur verändern zu wollen liegt meist in einer allgemeinen Unzufriedenheit mit dem Status Quo der Arbeitswelt: Aussagen über ein hohes Stresslevel, Mangel an Kreativität und Freiheit bei der Arbeit und ein hoher Grad an Unsicherheit bestätigen gesellschaftliche Trends von zunehmend prekären Arbeitsverhältnissen sowie steigenden Burnout-Raten (Brady & Biegert, 2017; Neckel & Wagner, 2017). Daran zeigt sich deutlich, dass durch unsere momentane Wirtschaftsweise nicht nur natürliche Ressourcen, sondern auch “menschliche Ressourcen” mehr und mehr übernutzt werden. Ein wichtiger Orientierungspunkt kann also der „innere Kompass“ sein – und eine damit verbundene Schwerpunktverschiebung weg von (Lohn-)Arbeit als „organisierendes Zentrum des Alltags“ (Nickel, 2004) hin zu mehr Freiräumen für andere Tätigkeiten, z. B. durch Arbeitszeitverkürzung oder der Anerkennung von anderen Tätigkeiten als Arbeitszeit.
Doch nicht nur individueller Leidensdruck, sondern auch der Wunsch nach einer sinnstiftenden Tätigkeit und gesellschaftlicher Wirkung durch das eigene Tun motiviert viele von konventionellen Arbeitswegen abzuweichen und neue eigene zu gehen. Dabei ist die Berücksichtigung individueller (Lebens-)Umstände im Arbeitsalltag oft mit dem Wunsch verbunden, gleichberechtigte Möglichkeiten für alle Beteiligten zu schaffen: Die Beachtung individueller Fähigkeiten als Teil von gegenseitiger Unterstützung und einem starken Gemeinschaftssinn.
Du kannst uns aber auch gern eine Mail an hallo@enfants-terribles.org schicken und wir kommen einfach ins Gespräch.
Bis bald!
In den offenen Textfeldern der Umfrage stechen vor allem Zusammenarbeit, Partizipation und Gemeinschaft als grundlegende Werte und Motivation, anders zu arbeiten, hervor. Verschiedene Hintergründe und Rahmenbedingungen der einzelnen Mitglieder können also Hand in Hand mit einer gemeinsamen Ausrichtung und gemeinsam getragener Verantwortung gehen – sie schließen sich nicht gegenseitig aus. Ein gutes Beispiel dafür ist die Anerkennung von Sorgearbeit und gesellschaftspolitischer Arbeit als Arbeitszeit. Dabei wird ein weiteres zentraler Wegweiser deutlich: Sorgetragen für das eigene und das kollektive gesellschaftliche Wohlbefinden sowie das der natürlichen Umwelt. Da bekommt das Wort „sorgenvoll“ doch gleich eine ganz anderen, angenehmeren Geschmack.
Zielrichtungen und neue Horizonte
Obwohl Ausstattungen, die genaue Ausgangsposition und die Wege selbst sehr unterschiedlich und vielfältig sind, so scheint doch die allgemeine zugrunde liegende Zielrichtung recht eindeutig: eine Arbeits- und Wirtschaftsweise, die nicht auf Kosten von eigenen Kräften, anderen Menschen und unserer natürlichen Umwelt geht. Durch verschiedene Formen des demokratischen Entscheidens und einer gemeinsam beschlossenen (finanziellen) Anteilnahme an der jeweiligen TAU können alle Beteiligten durch ihre Entscheidungen und ihre Tätigkeiten wirksam sein und bleiben. Die Entscheidungskraft bleibt bei denen, die es betrifft. So entsteht die Möglichkeit, sich nicht nur für ein sozialeres und kooperationsbasiertes Arbeiten einzusetzen, sondern auch darüber hinaus einen Einfluss auf sichere und auf verschiedenen Ebenen ressourcenschonende Arbeits- und Produktionsbedingungen zu haben. Dabei ist es ganz gleich, ob das Produkt am Ende ein Möbelstück, ein Stück Kuchen, eine Website, eine Performance oder ein Beratungsgespräch ist.
Dabei steht das eigentliche Produkt und der damit verbundene Gewinn jedoch meist nicht im Vordergrund (dadurch qualitativ jedoch nicht weniger wichtig!). Vielmehr liegt die Priorität auf der langfristigen Sicherung von Arbeitsplätzen sowie einer positiven sozialen, politischen und/oder ökologischen Wirkung. Wie auch in der konkreten Ausgestaltung von Entscheidungs- und Eigentumsmodellen zeigt sich auch wieder ein hoher Grad an Kreativität, Experimentierfreude und Offenheit für noch nicht vorhandene Lösungen – Eigenschaften, die in Studien zu Erfahrungen in anderen Ländern oft mit erhöhter Krisenresilienz verbunden werden (Cori et al., 2021). In diesem Sinne gibt es vielleicht nicht das eine klare Ziel, sondern eher einen gemeinsamen Horizont. Vielleicht braucht es ein bisschen Verwegenheit und Abenteuergeist, sich auf den Weg zu machen, um zu schauen, welche Welten sich dahinter eröffnen. Klar ist jedoch auch: wenn wir loswandeln wollen, müssen wir das nicht alleine tun – und eintönig grau wird es sicher nicht!
P.S.: Eine detailliertere alltagssprachliche Zusammenfassung der Umfrage-Ergebnisse findet ihr hier.
Sinje Grenzdörffer ist Gedankenarchitektin, Fragenstellerin, Geschichtenerzählerin und Forscherin im Bereich Wirtschaftsgeographie. Ihr Fokus liegt dabei auf der Untersuchung und Sichtbarmachung von bereits bestehenden transformativen Arbeitsstrukturen, in denen Eigentums- und Entscheidungsrechte bei denen bleiben, die dort arbeiten. Als Teil des Transformationsclusters der Heinrich-Böll-Stiftung schraubt sie gemeinsam mit anderen Forscher*innen an wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und gesellschaftlichen Stellschrauben für eine sozialökologische Transformation.
Auf diese Autor*innen und Werke habe ich mich bezogen:
Banks, M. (2018). Creative economies of tomorrow? Limits to growth and the uncertain future, Cultural Trends, 27:5, 367-380, DOI: 10.1080/09548963.2018.1534720
Brady, D. and Biegert, T. (2017), „The Rise of Precarious Employment in Germany“, Kalleberg, A.L. and Vallas, S.P. (Ed.) Precarious Work (Research in the Sociology of Work, Vol. 31), Emerald Publishing Limited, Bingley, pp. 245-271. https://doi.org/10.1108/S0277- 283320170000031008
Brand, U., Gorg, C., & Wissen, M. (2020). Overcoming neoliberal globalization: Social‐ecological transformation from a polanyian perspective and beyond. Globalizations, 17, 161–176. https://doi.org/10.1080/14747731.2019.1644708
Cori, A., Granata, M., Lelo, K., Monni, S. 2021. Mapping cooperatives in Italy. Entrepreneurship and Sustainability Issues, 8(3), 136-163. http://doi.org/10.9770/jesi.2021.8.3(8)
Feola, G. (2015). Societal transformation in response to global environmental change: A review of emerging concepts. Ambio, 44(5), 376– 390.
Göpel, M.(2016).The great mindshift: How a new economic paradigm and sustainability transformations go hand in hand. Springer
Meadows, D. H.; Meadows, D. L.; Randers, J. & Behrens, W. W. (Eds.). (1972). The Limits to Growth. A Report for the Club of Rome’s Project on the Predicament of Mankind. New York: Universe Books
Neckel, S., & Wagner, G. (2017). Exhaustion as a sign of the present. In S. A. K. NeckelSchaffner, & G. Wagner (Eds.), Burnout, Fatigue, Exhaustion. An Interdisciplinary Perspectives on a Modern Affliction. Cham (Switzerland): Springer International Publishing. https://doi.org/10.1007/978‐3‐ 319‐52887‐8
Nickel, H.M. (2004). Zukunft der Arbeit aus feministischer Perspektive. In: Baatz, Dagmar; Rudolph, Clarissa; Satilmis, Ayla (Hrsg.): Hauptsache Arbeit? Feministische Perspektiven auf den Wandel von Arbeit (Münster:Westfälisches Dampfboot), 242-254. DOI: https://doi.org/10.25595/29