»transformative autorität«

  • 16.06.2022 (aktualisiert)
  • von christiane kuerschner
  • Lesezeit: 20 Minuten
Wir sprachen mit Arbeitswissenschaftler Frank H. Baumann-Habersack über transformative Autorität, die eine neue Perspektive auf Führungsverhalten im New-Work-Kontext zulässt...
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Welche Rolle spielt Autorität im New-Work-Kontext – oder braucht es die gar nicht? Frank H. Baumann-Habersack hat den Begriff der „transformativen Autorität“ geprägt, die eine neue, offene Haltung von Führungskräften beschreibt. Wir sprachen mit ihm über Autorität und wie sie in einer transformativen Umgebung losgekoppelt von Über- und Unterordnung verstanden werden kann.

Autorität gehört nicht zu den beliebten Buzzwords in der New Work-Community. Was bedeutet sie für dich?

Nun, ich orientiere mich an der eigentlich allgemeinen Begriffsbestimmung, die es schon zu Autorität gibt. Denn darin ähneln sich die Verständnisse von Autorität, gleich ob sie aus der Psychologie, der Philosophie, der Linguistik, der politischen Theorie oder beispielsweise auch aus der Soziologie stammen: Autorität beschreibt einen Prozess, dass jemand einem anderen Führung zuschreibt und zwar freiwillig, und der andere, dem diese Führung angeboten wird, muss dieses Angebot, diese Zuschreibung auch annehmen. Und erst in diesem Moment entsteht zwischen diesen beiden Menschen Autorität oder genauer gesagt, eine Autoritätsbeziehung. Das heißt, Autorität ist keine Eigenschaft einer Person, auch wenn das vielfach noch in unserer Gesellschaft immer wieder erzählt wird. Autorität ist ein Phänomen in Beziehungen, und damit auch in jeden Arbeitsbeziehungen. Ob einem das nun gefällt oder nicht: das Phänomen und dessen Wirkung bleiben, auch wenn es verneint oder tabuisiert wird.

Wie bist du als Arbeitswissenschaftler zu dem Thema gekommen?

Ich bin eigentlich erst als Praktiker rund um das Thema Führung zum Thema Autorität gekommen. Nämlich als Vater habe ich mir öfter die Frage gestellt: welches Modell gebe ich eigentlich ab und wie kann ich gut mit unseren Kindern umgehen? Dabei entdeckte ich die Arbeiten von Haim Omer und Arist von Schlippe zum Thema „neue“ Autorität in Pädagogik und Jugendarbeit. Und als ehemaliger Projektleiter und ehemalige Führungskraft sowie später auch als Unternehmer, erkannte ich schnell, die Parallelen zwischen der „Führung“ zwischen Eltern und Kindern sowie zwischen Führungsverantwortlichen und Mitarbeiter:innen. Und so begann ich 2010 mich wissenschaftlicher mit Autorität zu beschäftigen. Seit Ende 2019 nun auch hauptberuflich als externer Wissenschaftler an der Universität Bremen.

Wie weit ist in Deutschland die Forschung in diesem Themenkomplex? Mit Rücksicht auf die Historie ist Autorität hier ja eher ein schwieriges Thema.

Da muss mensch nach Wissenschaftsdisziplinen differenzieren. In der politischen Theorie bzw. in den Politikwissenschaften oder auch in der Soziologie wird auf gesellschaftlicher Ebene sicher zu Autorität geforscht. Aber nicht als Grundlagenforschung, um zum Beispiel neue Aspekte freizulegen oder gar Autorität weiterzudenken. In Disziplinen wie Psychologie und Philosophie findet meines Wissens nach auch keine Forschung statt, die Autorität weiterdenkt. Ich würde es mal so formulieren: Autorität wird in der Regel wissenschaftlich verwaltet und wenn eher quantitativ beforscht. Qualitative Forschung zur Autorität, insbesondere im Berufskontext und als Grundlagenforschung, gibt es bis auf meine Forschung aktuell keine. Das hängt weniger mit der Historie zusammen, sondern eher damit, dass Autorität, ähnlich wie die Themen Komplexität oder Konflikte, ein transdisziplinäres, wissenschaftliches Thema ist. Wir bräuchten meiner Ansicht nach disziplinübergreifende Autoritätsforschung. Und deren Finanzierung. Dann könnten wir weit bzw. weiter sein.

Was ist eine transformative Autorität?

Zum Verständnis vielleicht erst ein paar Gedanken zuvor: Die meisten Menschen setzen Autorität in der Regel mit autoritär gleich. Das bedeutet vor allem, Über- und Unterordnung, Gehorsam, das Recht, belohnen oder bestrafen zu können, Distanziertheit, Willkür und Angst; aber auch Orientierung und Führung, Durchgreifen bei Grenzüberschreitungen oder nicht lösbaren Konflikten. Oder Menschen lehnen genau diese Form einer Autoritätshaltung ab und nehmen dann eine antiautoritäre Haltung zu Autorität ein. Beide Haltungen drücken somit eine Form des Bewusstseins aus, wie wir seit vielen Jahrhunderten soziale Beziehungen gestalten.

Die transformative Haltung hingegen eröffnet eine weitere Bewusstseinsebene, die sich bereits schon in unserer Welt befindet, für die es aber bislang weder eine hilfreiche Sprache noch ein Konzept gab.

»Die transformative Autorität ist nicht nur entkoppelt von Über- und Unterordnung, Gehorsam, belohnen und bestrafen, sondern sie strebt danach, auf einer gleichwertigen Ebene Menschen gewaltlos (also ohne Beschämung oder Ausgrenzung) in Co-Kreation und Co-Führung einzuladen, um gemeinsam Ziele zu verwirklichen.«

Dennoch nimmt sie die Verantwortung für Orientierung und Führung an und greift bei Grenzüberschreitungen ein – jedoch gewaltlos. Es wird sicherlich deutlich, dass die transformative Autorität damit kein Führungsstil ist, sondern eine Haltung, eine andere Form des Bewusstseins, wie Menschen in Organisationen führen und folgen organisieren können.

Und warum braucht es eine solche Begrifflichkeit und Funktion (auch) in flachen Hierarchien?

Es braucht so eine neue Begrifflichkeit, weil sie Menschen darauf aufmerksam machen kann, dass sie sich in ihrem Bewusstsein, in ihrer Haltung zu Autorität weiterentwickeln sollten. Sie können sich damit aus einer Ich-Zentrierung, aus einer Ego-Zentrierung lösen und wie Otto Scharmer das ja so schön beschreibt, in öko-systemisches Denken kommen. In ein Ich-im-wir. Und dann spielt die Flachheit von Hierarchie überhaupt keine Rolle mehr.

»Ich würde sogar noch pointierter sagen: sich mit dem Grad der Hierarchie zu beschäftigen, kann davon ablenken, sich mit seinem Bewusstsein zur Autorität, zu Führen und Folgen zu beschäftigen.«

Und sich von überlebten Denk- und Handlungsweisen zu verabschieden. Letztendlich drückt transformativ das ebenfalls aus oder wie ich es auch nenne: die Evolution im Bewusstsein zu Autorität.

Sind dann anti-autoritäre Führungskonzepte aus Sicht der Forschung gescheitert? 

Im Bereich der Pädagogik, und da erinnere ich mich an eine Aussage von Arist von Schlippe, sind rein antiautoritäre Konzepte sicherlich gescheitert. Zur Überraschung vieler, und das zeigten Studien in diesem Kontext, hatten Kinder und Jugendliche, die antiautoritär erzogen wurden ähnliche Selbstwertprobleme wie solche, die autoritär erzogen wurden. Im betrieblichen Kontext gibt es meiner Kenntnis nach weder anti-autoritäre Führungskonzepte und damit auch keine Forschung. Das Scheitern lässt sich nur wissenschaftlich theoretisch ableiten, da Führungskräfte mit einer anti-autoritären Haltung nicht wirklich in Präsenz gehen. Sie übernehmen keine Verantwortung für Orientierung und Führung. Sie entziehen sich Auseinandersetzungen, ja ich möchte fast sagen, sie überlassen Teams sich selbst. Die Lauten, Schnellen oder auch Starken setzen sich dann in der Regel durch und dominieren mit ihren Interessen die Interessen der Mehrheit. Hierzu gibt es aber tatsächlich Forschung, z.B. von Jo Freeman „Die Tyrannei der Strukturlosigkeit“.

Ein praktisches Beispiel: Ein*e Mitarbeiter*in schlägt im Team ständig quer, gerät in Konflikte und verliert dabei den Blick für das Wesentliche, die Arbeit. Wie sähe die klassische autoritäre Reaktion auf ein solches Verhalten aus und wie eine Auseinandersetzung mit transformativer Autorität?

​​Die autoritäre Reaktion basiert in der Regel auf der Idee, auf „falsches“ Verhalten sofort zu reagieren, es zu unterbinden und dem Anspruch, das Verhalten des anderen über Machtgebaren zu verändern – also grundsätzlich durch Einschüchterung. Das könnte hier zum Beispiel bedeuten, dem oder der „Störer:in“ eine Ansage zu machen, das Verhalten sofort zu unterlassen. Und sich an die Regeln zu halten, sonst drohen Konsequenzen, wenn der Ansage keine Folge geleistet wird. Vielleicht wird das sogar vor versammelter „Mannschaft“ durchgezogen, um über Beschämung Druck aufzubauen und die Unterordnung deutlich zu machen. Auch, damit der Umgang als abschreckendes Beispiel wahrgenommen wird, wie mit Leuten umgegangen wird, die nicht „funktionieren“.

»Die transformative Reaktion gründet in der Haltung, dass jede Konfliktsituation eine Möglichkeit sein kann, die Autoritätsbeziehung zu transformieren, hin in Richtung Gleichwertigkeit, Ko-Kreation und Co-Führung.«

Mit dieser Einstellung gelingt es schon mal, sich diesem Verhalten mit einem ganz anderen Ziel zu nähern. Der nächste Schritt könnte hier beispielsweise sein, die Auseinandersetzung zu deeskalieren und zu verzögern. Die Teamleitung benennt das nicht hilfreiche oder gar schädigende Verhalten. Und bezieht deutlich Position, dass das nicht akzeptabel ist. Ein Termin, vielleicht 24 Stunden später, wird vereinbart mit dem Ziel, das Thema zu klären. Und gleichzeitig mit der Aussage, dass es möglicherweise auch noch mehrere Termine dafür braucht. Damit wird deutlich, dass das Thema beharrlich bearbeitet wird, im Sinne von: Du wirst mich nicht mehr los, bis wir zu einer Vereinbarung gekommen sind. Bis zu dem vereinbarten Termin können beide Seiten zurück zu einem „kühlen Kopf“ kommen. Das Gespräch führt die Teamleitung in der Haltung, ich weiß, dass ich dich nicht verändert kann. Das kannst nur du selbst. Und, ich will dich auch nicht bezwingen oder niederringen. Ich werde aber auch nicht mehr weichen. Ich werde mich deinem nicht hilfreichen Verhalten in den Weg stellen. Und zwar so lange, bis wir eine Lösung erarbeitet haben, die sowohl den Unternehmensinteressen als auch möglichst vielen deinen Interessen dient. Mit dieser innerlichen Verfassung beginnt die Teamleitung einen Verhandlungsprozess, der (vielleicht erst nach mehreren Gesprächen) in einer Vereinbarung mündet. Möglicherweise holt sich die Führungskraft noch Unterstützung/ Rat in der Führungskoalition/ dem Führungsnetzwerk von Kolleg:innen, mit dem Ziel, die Beziehung zu der/ dem Mitarbeiter:in zu verbessern. Denn in der transformativen Autorität muss keine:r mehr alleine führen. Das entlastet, deeskaliert und eröffnet klügere, reichhaltigere Ideen, auf nicht akzeptables Verhalten transformativ zu reagieren.

Wie fügt sich transformative Führung in Organisationen ein? Was sind insbesondere für Führungskräfte die Aufgaben und Herausforderungen?

Da die transformative Autorität kein Führungsstil ist, sondern eine Haltung mit dem erweiterten Bewusstsein, Führungsbeziehungen auch als gleichwertig trotz Hierarchieunterschieden zu erachten, kann sie sich in jede Organisation einfügen. Denn sie gibt weder ein konkretes Verhaltensziel vor, noch ist sie an spezielle Methoden gebunden. Das war auch das, was mich als ehemalige Führungskraft daran fasziniert hat: die Haltung ermöglicht es, einen höchst individuellen und dem jeweiligen Umfeld angepassten Führungsstil zu entwickeln – solange natürlich die Würde von Menschen gewahrt wird und die Gleichwertigkeit (nicht Gleichheit) angestrebt wird.

Die Aufgaben von Führung bleiben überwiegend: Rahmenbedingungen ermöglichen, dass Menschen gut und gerne arbeiten können. Und: Führen… Das jedoch mit dem Ziel, und das ist sicherlich eine erweiterte Aufgabe, andere Menschen in Ko-Führung einzuladen und dabei zu begleiten.

»Das bedeutet, dass Menschen lernen, sich miteinander selbst zu führen.«

Der wesentliche Aspekt dabei ist zu lernen, selber gemeinsam konstruktiv Konflikte auszutragen und Entscheidungen herbeizuführen. Das haben nur wenige Menschen gelernt, so dass das eine der Hauptaufgaben ist. Ein bewusstes Modell dafür zu sein, wie Führung mit Gleichwertigkeit gelingen kann.

Die Herausforderung klingen wahrscheinlich schon durch. Als Führungskraft muss ich zuallererst innerliche Entscheidungen treffen. Will ich mit Menschen auf gleichwertiger Ebene zusammenarbeiten obwohl ich hierarchisch übergeordnet bin? Kann ich und kann insbesondere mein Ego aushalten, dass ich als Führungskraft zwar wichtig bin, dass es aber überhaupt nicht um mich persönlich geht? Danach folgen Herausforderungen wie beispielsweise: wie organisiere ich mir Zeit, die ich brauche, um Gespräche mit Einzelnen als auch mit dem Team zu führen, um Störungen zu reflektieren und diese als Transformationsanlass zu verstehen, um in Co-Führung zu kommen? Wie lerne ich eine neue Art der transformativen Konfliktbearbeitung, damit ich überhaupt die Fertigkeiten habe, solche Gespräche zu führen? Oder auch: wie baue ich mir ein innerbetriebliches oder unternehmensübergreifendes Führungsnetzwerk, eine Führungskoalition auf, damit ich mich auf dem langen Weg der Transformation unterstützt und eingebunden fühle?

Du hattest Anfang des Jahres zur Teilnahme an deiner Studie aufgerufen, die sich der empirischen Grundlagenforschung zum Thema Führungsautorität widmet. Wie weit sind die Vorbereitungen und mit welcher Fragestellung gehst du in diese Forschungsarbeit?

Ich starte im Mai in die Feldphase meiner Forschung, also wissenschaftlich ausgedrückt: ich sammle Daten… über qualitative als auch quantitative Forschungsmethoden.

In die Feldphase steige ich mit diesen Fragen ein:

1)    Wie bearbeiten Menschen in Autoritätsbeziehungen mit Führungsverantwortung ihre Konflikte in Zeiten sozialer Transformation?

2)    Wie lassen sich die Beobachtungen auf Basis von Autoritätshaltungen und Konfliktstilen der Menschen erklären?

3)    Welche Faktoren sind am wirksamsten für eine Transformation der Autoritätsbeziehung hin zu Gleichwertigkeit auf menschlicher Ebene?

Und wo kann man deine weitere Arbeit am besten verfolgen? Du hast nicht zufällig einen eigenen Podcast #Führungsautorität?

Am besten ist mein Newsletter, der etwa zwei Mal im Jahr erscheint. Kurzfristige Updates gibt es bei LinkedIn und natürlich auch bei Twitter.

Leider habe ich die Kapazität nicht für einen eigenen Podcast. Ich werde aber immer mal wieder zu Podcast-Folgen wie hier eingeladen, die Führung, speziell auch in agilen oder auch selbstorganisierten Umfeldern, behandeln, bzw. die Konflikte oder auch Transformation thematisieren.

Frank H. Baumann-Habersack ist freiberuflicher, externer Wissenschaftler an der Universität Bremen und betreibt Grundlagenforschung zu Autorität und Konflikten im Kontext Führung. Er publiziert seine Erkenntnisse in Büchern und Artikeln. Und berät nebenberuflich, mit über 20 Jahren Berufs- und Führungserfahrung, Unternehmen aller Art bei Führungsfragen. www.baumann-habersack.de

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