»Wann, wenn nicht jetzt: Führung neu gestalten!«
Stell Dir vor, die Corona-Krise ist vorbei. Alles ist wie vorher. Wollen wir das wirklich? Wollen wir nicht vielmehr die positiven Erfahrungen in eine dauerhafte neue Führungspraxis überführen, die deutliche geschlechtergerechte Potenziale hat?
Die derzeitige Krise wirbelt die bisherige Art des Arbeitens und der Führung kräftig durcheinander. In den letzten Wochen haben alle, denen es möglich war, im Home-Office gearbeitet. Plötzlich wurde möglich, was zuvor viele Führungskräfte für unmöglich, undenkbar und unmachbar hielten.
Dank (meist) stabiler Internetverbindungen und der hervorragenden Arbeit der IT-Verantwortlichen gelingt ein (weitgehend) effektives Arbeiten ausserhalb des Büros. Zudem haben die meisten von uns eine steile Lernkurve in der Nutzung digitaler Tools für die virtuelle Zusammenarbeit und des Austausches hingelegt. Gleichzeitig haben sich aber auch die Formen der Zusammenarbeit und vor allem der Führung gewaltig verändert.
Was jetzt so plötzlich und neu erscheint, hat jedoch bereits unter dem Begriff „New Work“ eine längere Konzept- und Umsetzungstradition: Die derzeitige Situation ist zwar bisher beispiellos, aber gleichzeitig ein weiterer Beleg dafür, dass wir in einer VUCA-Welt leben, die von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (Mehrdeutigkeit) geprägt ist.
Auch ohne das Virus erhöhen Informatisierung und Digitalisierung, rasanter technologischer Wandel sowie zunehmende Globalisierung die Unberechenbarkeit für wirtschaftliche Akteure massgeblich. Wie wir gesehen haben, hat das, was gestern in China geschah, erhebliche Konsequenzen in Europa (und weltweit) nach sich gezogen und Unternehmen vor neue, unerwartete Herausforderungen gestellt.
Traditionelle Arbeitsformen stoßen dabei ganz offensichtlich an ihre Grenzen, flexiblere Formen der Zusammenarbeit sind notwendig geworden. Es handelt sich dabei um Konzepte, die bereits seit längerem unter den Begriffen „New Work“ oder „Arbeiten 4.0“ diskutiert und erprobt werden. Hierdurch verändert sich auch, was wir unter Führung verstehen und was wir von Führungskräften erwarten.
Schauen wir uns Führung genauer an, so sind aus unserer Sicht zwei bereits breit diskutierte Aspekte zentral: Vertrauen statt Kontrolle und Fürsorge statt Work-Life-Separation. Beide Ansätze sind unserer Ansicht nach auch aus Gleichstellungssicht vielversprechend.
Vertrauen statt Kontrolle
Bei der Lektüre der Tagespresse fällt auf, dass Kontrolle für ein wesentliches Führungsinstrument gehalten wird – sichergestellt durch die Präsenz vor Ort. Die überwiegende Mehrheit der Mitarbeitenden ist nun aber im Home-Office, was für die Führung mit einem beängstigenden Kontrollverlust verbunden zu sein scheint.
Allerdings war es auch illusorisch, dass Führungskräfte ihre Mitarbeitenden vor Ort (besser) kontrollieren können, denn es ist schließlich auch möglich, im Büro zu sitzen und an etwas anderes zu denken oder etwas anderes zu tun. Denn (hoffentlich) niemand hat wohl die Effektivität jedes Mausklicks überprüft, jede Email in Kopie erhalten, Tagesergebnisse jeden Abend rapportieren lassen.
Die Lösung heisst aber nicht „Perfektion der Kontrolle“, sondern im Gegenteil: Mehr Vertrauen. Vertrauen darauf, dass die Mitarbeitenden mit klaren Verabredungen ihre Aufgaben zu Hause genau wie zuvor im Büro erledigen werden.
Notwendig sind dafür, klare und messbare Ziele zu vereinbaren sowie Absprachen über Erreichbarkeiten, Reaktionszeiten, Prioritäten und Vereinbarungen im Team zu treffen. Das reduziert „Kontrollwahn“ und „Kontrollillusion“ und ermöglicht die Beurteilung von Leistung, nicht von Anwesenheit. Dies ist unerlässlich, soll Home Office für alle ein Erfolg werden.
Vertrauen ist auch in Konzepten von „New Work“ zentral. Es wird davon ausgegangen, dass in einer VUCA-Welt vermehrt dezentral entschieden und mit geringer Formalisierung gearbeitet wird. Das basiert auf der Annahme, dass einzelne Führungspersonen an der Spitze nicht mehr in der Lage sind, das gesamte Entscheidungsspektrum zu erfassen und in jeder Hinsicht die optimale Entscheidung zu treffen. In Kombination mit flexibleren Arbeitsformen wie dem Home-Office hat demnach auch der klassische Führungsstil des ‚command and control’ ausgedient (Bruch et al. 2016: 7, INQA 2014: 7).
Fürsorge statt Work-Life-Separation
Auch die Zusammenarbeit erscheint in der Presse als ein wichtiges Thema: Über längere Zeit in den eigenen vier Wänden zu arbeiten, behagt nicht allen Beschäftigten. Die meisten fangen nach ein paar Tagen an, ihre Kollegen und Kolleginnen zu vermissen. Es fehlt der soziale Austausch, gemeinsam entwickelte Routinen und Gewohnheiten. Für die einen birgt die physische Distanzierung die Gefahr einer sozialen Isolation. Die anderen stehen vor der Herausforderung, Familie und Kinder im Home-Office zu vereinbaren. Manche neigen dazu, weniger Pausen zu machen, um jederzeit erreichbar zu sein oder noch schnell fertig zu werden und überfordern sich dabei selbst.
Hier werden die Führungskräfte aufgerufen, sich um das körperliche und geistige Wohl ihrer Mitarbeitenden zu kümmern – ein Aspekt, der im Gegensatz zur „normalen“ alltäglichen Führungspraxis nun besondere Aufmerksamkeit erfährt.
Die Organisation der Arbeit verlangt nun mehr Kommunikation, nicht weniger. Denn obwohl Arbeit im Home-Office lockerer und informeller erscheint, braucht es wesentlich genauere Absprachen und Vorgaben seitens der Führungskräfte. Es ist jetzt nicht mehr wie bisher möglich, nach einem Meeting jemandem zwei, drei Sätze zuzurufen. Dienlich sind regelmässiger Kontakt mit der Prämisse: weniger Emails, mehr Telefon, noch mehr Video-Calls. Wöchentliche Videocalls über den Stand der Aufgaben offenbaren schnell, wenn etwas nicht in Ordnung ist und nachjustiert werden muss – was außerdem auch dem gefühlten Kontrollverlust entgegen wirkt. Auch regelmässige Videocalls mit dem gesamten Team erhalten das Teamgefühl und machen Projektfortschritte sichtbar. Die fehlende Präsenz der Führungskraft wird nun also durch vermehrte Kommunikation ausgeglichen.
Neben der Arbeitsorganisation bedarf es zweitens auch neuer Formen des informellen Austauschs. Besonders virtuelle „Kaffeeküchen“ oder regelmäßige „Kaffeepausen“ sind en vogue: Sich am Morgen oder Nachmittag in einem entsprechenden Gruppenchat oder virtuellen Meetingraum zu treffen und sich wie sonst auch über Leichtes und Privates auszutauschen, einfach ein wenig außerhalb des Tagesgeschäftes zu plaudern. Weitergehend sind auch wöchentliche After Work Drinks, virtuelle Geburtstagsfeiern, Freitag-Mittag Pizzalieferungen für das gesamte Team angesagt.
Drittens gewinnt die zwischenmenschliche Ebene an Bedeutung: Wenn Führungskräften in einem persönlichen Video-Gespräch pro-aktiv fragen, wie es der Person geht, geben schon der Gesichtsausdrucks und die Körperhaltung Aufschluss über den emotionalen Zustand – so wird aktives Zuhören zu einer essenziellen Schlüsselkompetenz für Führungskräfte. Die Stimmung und Zufriedenheit zu erfragen, ist vor allem – aber nicht nur – im Home-Office bedeutsam, denn nur ausgeglichene und zufriedene Menschen sind produktiv und leistungsfähig. Besteht hingegen Anlass zur Sorge, muss die Führungskraft handeln. Zu zeigen, dass auch Führungskräfte vor einem Durchhänger nicht gefeit sind, trägt wiederum dazu bei, alle wissen zu lassen, dass Schwäche zu zeigen keine Schande ist.
Da die Video-Gespräche und virtuellen Teamtreffen nun im häuslichen Umfeld stattfinden, bekommen alle auch mehr Einblicke in Privatleben. Dadurch findet eine grössere Verbindung von Work und Life statt. Und was in der bisherigen Führungspraxis bislang marginal erschien, gewinnt nun an Bedeutung: Die Fürsorge für die Mitarbeitenden.
Frederic Laloux (2015) konzeptionalisiert diese Aspekte als Ganzheitlichkeit: Der Geringschätzung von privaten Belangen und Gefühlen in traditionellen Arbeitsbeziehungen setzt er die Anerkennung größerer Teile der privaten Persönlichkeit – also eine größere Integration von „Life“ in „Work“ (vgl. BMAS 2015).
Voraussetzung dafür ist, dass Organisationen Rahmenbedingungen schaffen, um die Persönlichkeit zu offenbaren und Teilhabe an der Gemeinschaft als zentralen Wert verstehen. Benötigt wird deshalb ein Führungsverständnis, das die Mitarbeitenden ins Zentrum rückt und als „weiche Faktoren“ bezeichnete Aspekte das Zusammenspiel der Menschen im Unternehmensalltag eine zentrale Rolle spielen (Laloux 2015).
Die Führung der Zukunft geschlechtergerechter gestalten
Vertrauen, Kommunikation und Fürsorge sind traditionell keine bedeutsamen Attribute und Kompetenzen von Führungskräften. Bislang waren eher Rationalität, Härte, Durchsetzungsvermögen, Wettbewerbsorientierung sowie die Abspaltung persönlicher und emotionaler Befindlichkeiten gefragt. Diese Elemente eines „heroischen Führungsstils“, wie er von Peter Dachler (2010) bereits seit den 1990er Jahren kritisiert wurde, werden allesamt als männlich angesehen und mit Männern in Verbindung gebracht.
Dem entgegen werden Frauen (in Führungspositionen) die beschriebenen „neuen“ Attribute zugeschrieben– und zu Recht zugleich als stereotypes Bild kritisiert (Billing & Alvesson 2014: 209). Dennoch kann das neue Führungsverständnis dazu führen, dass mehr Frauen eine Chance haben werden, in eine Führungsposition zu gelangen. Denn die bislang konzeptionell bestehende Unvereinbarkeit bzw. Nichtübereinstimmung zwischen „Frauenkompetenzen“ und „Management-Kompetenzen“ scheinen durchlässiger zu werden (ebd.: 214). Obwohl die aktuellen Veränderungen der Führungsverständnisse Gleichstellung und Frauen häufig nicht ausdrücklich thematisieren, ist es doch offensichtlich, dass nun deutlich Kompetenzen gefragt sind, die üblicherweise mit Frauen in Verbindung gebracht werden.
Die derzeit zu beobachtende „De-Maskulinisierung“ (ebd.: 202) von Führung eröffnet zudem auch Spielräume für Männer und männliche Führungskräfte, neue Formen von Männlichkeit zu erproben. Es deutet sich nämlich an, dass das Verhalten von Führungskräften eine Antwort auf die Erwartungen der Beschäftigten, der Organisationsnormen und der Führungsrichtlinien zu sein scheint (und weniger von unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen von Frauen und Männern). Das Geschlecht der Führungskräfte ist deshalb weniger bedeutsam und keine essentielle Disposition für neue Führung (ebd. 209). So können auch Männer die Chance nutzen, Führung neu und geschlechtergerecht zu gestalten.
Home-Office ermöglicht mehr Gleichstellung
Bislang fühlten sich Menschen im Home-Office zuweilen dem Generalverdacht ausgesetzt, auf dem Sofa zu lümmeln oder den Haushalt zu machen statt die eigentliche Arbeit zu erledigen. Dies könnte ein Grund sein, warum Home-Office in vielen Unternehmen, besonders aber in kleineren und mittleren Unternehmen (KMU), noch wenig akzeptiert und deshalb bis vor kurzem noch kein Massenphänomen war: Gemäß der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE) von 2019 arbeiteten lediglich 25 % der Beschäftigten zumindest gelegentlich zu Hause. Und das, obwohl viel mehr Beschäftigte gerne im Home-Office arbeiten wollten, dies jedoch nicht durften (Weichbrodt, Berset, Schläppi 2016).
Für die Zeit nach der Krise wird in den Presseartikeln angenommen, dass die Mitarbeitenden vermehrt Arbeiten im Home-Office einfordern werden, so dass sich eine Mischform aus Home- und Präsenz-Office etablieren wird. Das hat auch für die Unternehmen Vorteile: Die Arbeit ist fokussierter und damit effizienter und produktiver, ebenso steigt die Zufriedenheit, unter anderem genau wegen der neu entstandenen Freiheit, zwischendurch einfach mal joggen zu gehen. Zudem steigt die Arbeitgeberattraktivität: Unternehmen, die kein Home-Office anbieten, werden in Zukunft schwerer Mitarbeitende finden.
Neben mehr Selbstbestimmung und Arbeitszeitflexibilität bietet Home-Office auch eine bessere Chance für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie (BMAS 2017) – und ist deshalb schon allein aus einer Perspektive der Gleichstellung wünschenswert. Die Zeit, die nicht für das Pendeln zur Arbeit verwendet wird, fließt in die Zeit für Familie. Die höhere Selbstorganisation der Arbeit ermöglicht es, Hausarbeit zwischendurch zu erledigen, was zu einer Entzerrung von Hausarbeit und Familienzeit nach Feierabend und am Wochenende führt. Zu beobachten ist zudem eine partnerschaftlichere Aufteilung der Familienaufgaben und beruflichen Pflichten zwischen Müttern und Vätern. Home-Office ermöglicht darüber hinaus einen früheren oder umfangreicheren Wiedereinstieg in den Beruf nach der Geburt eines Kindes sowie eine karrierefreundliche Alternative zur Teilzeitarbeit sowie auch die Möglichkeit, das Pensum aufzustocken (ebd.: 88).
Home-Office fördert Work-Life-Integration
Es besteht Einigkeit darüber, dass Arbeiten im Home-Office und Kinderbetreuung vor allem kleiner Kinder nicht ohne weiteres miteinander vereinbar sind. Aktuell haben Eltern bei geschlossenen Schulen und Kitas jedoch kaum Alternativen. Sich bei der Betreuung abzuwechseln, mit größeren Kindern einen klaren Tagesablauf zu vereinbaren, ein separater Raum mit einem „Bitte nicht stören“-Schild sind sicherlich sinnvolle Hinweise. Aber viele Eltern werden die Erfahrung gemacht haben, dass sich dies nicht immer umsetzen lässt – wie schon das Skype Interview der BBC mit Prof. Robert Kelly zeigte, dessen Kinder in die Live-Übertragung platzen oder aktuell das Interview von Ana Maria Montero von CNN Money Switzerland mit dem CEO von Roche Severin Schwan.
Obwohl die momentan gegebene Extremform von „Work-Life-Integration“ äußerst anstrengend ist, wird die Verbindung des „ganzen Lebens“ und der „ganzen Person“ dadurch sichtbarer. Auch Führungskräfte und Beschäftigte ohne Kinder, erleben ihre Kolleg*innen und Mitarbeitende durch die Aufhebung der räumlichen (und zuweilen zeitlichen) Trennung von Kinderbetreuung und Büro-Arbeiten ganzheitlicher. Dies bietet die Chance einer größeren Akzeptanz von Familienaufgaben im Führungsverständnis: Abwesenheiten oder überstürztes Abbrechen der Arbeit durch kranke Kinder oder Teilzeit werden dann nicht mehr als „Störung des Normal-Betriebes“, sondern gehören zur Normalität der Zusammenarbeit und „neuer“ Führung.
Durch das aktuelle Corona-bedingte Home-Office musste Führung neu gedacht werden und es wurde unmittelbar notwendig, Neues auszuprobieren. Mit der gestiegenen Akzeptanz des Home-Office haben sich auch neue Führungspraktiken verbreitet und vielerorts an Akzeptanz gewonnen. Für uns ist hiermit auch die Hoffnung verbunden, dass sich aus der Ausnahmesituation Verstetigungen ergeben, die die Arbeitswelt weiter verändern werden und schlussendlich auch geschlechtergerecht wirken können. Bleiben wir dran!
Dieser Beitrag erschien zuerst im Blog des Projektes „Leaders for Equality“ sowie in gekürzter Fassung in der Ausgabe 02/2020 des digitalen Unimagazin HSG Focus. Im Originalbeitrag findet Ihr auch die Angaben zur Literatur und den Presseartikeln.
Dr. Gabriele Schambach und Prof. Dr. Julia Nentwich beschäftigen sich mit Fragen von Führung, neuen Formen der Zusammenarbeit und deren Auswirkung auf Inklusion und Chancengleichheit.
Mit dem Projekt „Leaders for Equality“ erforschen und entwickeln sie die für die Gleichstellung förderlichen Praktiken männlicher Führungskräfte in verschiedenen Schweizer Unternehmen.