Gamification war bis vor einiger Zeit der Knaller in den Unternehmen, die was auf sich hielten. IT-Einführungen, eine neue Produktivitätssoftware – eine Zeit lang war kaum eine Veränderung in Unternehmen denkbar, die nicht um ein Vielfaches einfacher vonstatten ging, sofern man sie „gamifizierte“, mit spielerischen Elemente anreicherte. Zumindest vermeintlich. Punkte, die man sammeln konnte. Tasks und Aufgaben wurden zu Quests. Es gab einsichtbare Rankings und Belohnungsssysteme. Avatare konnten kreiert werden. Der Spieltrieb des Menschen wurde angetriggert – ohne wirklich zu wissen, was für ein Spiel man da eigentlich spielte.
Die Hominis des Wirtschaftlebens
Ja, die Kraft des homo ludens sollte geweckt werden und dem homo faber und homo oeconomicus produktive Gesellschaft leisten. Weiterhin im recht ungeselligen Konkurrenz- und Wettbewerbsgedanken. Doch so sind sie halt, die Spiele mit denen wir groß werden.
Egal ob Formel Eins, Fussball, Handball. Es wird am Ende einen Gewinner oder Verlierer geben. Ein Unentschieden kann es zwar abhängig von der Sportart hier und da geben – angestrebt wird aber der klare Sieg (Teamsieg, natürlich). Das Verlieren des anderen ist das eigentliche Ziel – und wird auch mit mehr Punkten belohnt. So ist halt die Welt. Je früher wir unsere Kinder und späteren Führungskräfte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter darauf vorbereiten, umso besser.
Stuhltanz
Daher ja auch schon in frühen Kindesjahren in der Kita und später dann bei der Hochzeitsparty: Der Stuhltanz aka „Reise nach Jerusalem“. Stühle werden in zwei Reihen, Rückenlehne an Rückenlehne, aufgestellt. Genau einer weniger, als es Personen sein werden, die „drumherum tanzen“ werden. Alle wissen, dass es nicht für alle reichen wird. Die Musik fängt an zu spielen. Und wieder wissen alle, dass die Musik irgendwann aufhören wird zu spielen.
Wem die Parallelen zu unserem Wirtschaftssystem bis hierhin noch nicht aufgefallen sind, der sollte sich den vorangegangenen Absatz noch einmal in Ruhe durchlesen. Schließlich hört genau JETZT die Musik auf zu spielen. Alle versuchen einen Platz zu finden, notfalls wird ein wenig gedrängelt. In einigen Fällen auch ein wenig mehr. Hauptsache, man findet sich sicher sitzend wieder, wenn die Musik nicht mehr spielt.
Auf den Schoß wird mit Sicherheit niemand genommen. Was aber mit Sicherheit geschieht: Eine oder einer darf das Spielgeschehen verlassen. Worauf das Spiel am Ende hinausläuft, wissen wir mittlerweile alle: Es wird einen Gewinner oder eine Gewinnerin geben, die den letzten Stuhl in Besitz hat. Ja, auch hier geht es ums Haben. Das Eigentum. Meins. Nicht deins.
Fragespiele
Spätestens hier sollten die erwachsenen Spielerinnen und Spieler einmal innehalten und sich ein paar Fragen stellen. Fragen, die wir noch nie gefragt worden sind beim Spielen des Stuhltanzes. Fragen, die wir selbst auch nie gefragt haben:
Wo bleiben eigentlich die Stühle, die rausgenommen wurden? Irgendwie sind sie ja immer noch in Sichtweite. Wem gehören sie nun? Wieso durften die einfach so weggenommen werden und stehen nicht mehr zur Verfügung? Durch wen wurden sie entfernt und warum? Gehören diese Stühle nun jemanden?
Hat dann womöglich nicht diese Person am Ende gewonnen, die all die Stühle hat, die im Laufe des Spiels rausgenommen wurden?
Wieso darf man eigentlich niemanden auf den Schoß nehmen? Warum bekommt die Person, die dies täte, nicht Extrapunkte? Würde das Spiel dann zu kompliziert werden? Würden wir dann etwa bei diesem Social Scoring Spiel landen, das die da in China gerade spielen? Ist das dann noch ein gutes, ehrliches, faires Konkurrenz-Spiel?
Nein, die unsolidarischen Spielregeln des intransparenten Umverteilens sollten und dürfen wir nicht anfangen zu hinterfragen. Dann würden ja die Spiele, die wir spielen nicht mehr so viel Spaß machen, oder?
Nach wessen Musik „tanzen“ wir da eigentlich, suchen uns unsere Jobs und Machtverhältnisse aus? Nach welchen (willkürlichen?!) Kriterien wird die Musik aus- und angemacht, kommt es zu Entlassungen, Konjunkturen oder Krisen? Wer legt die Regeln fest? Wo landen die Stühle (Umverteilung) und warum lassen wir sie uns so einfach wegnehmen? Weil das die Spielregeln sind? Weil wir doch so viel Spaß beim Stuhltanz, an unseren Arbeitsweisen, haben? Weil es ja immer noch die Chance gibt, einen der Stühle/Arbeitsplätze abzubekommen?
Man kann es ja schließlich bis in die Chefetage (letzter Stuhl?!) schaffen – aber wie gesagt: die eigentlichen Gewinner sind womöglich die, die alle anderen Stühle haben. Die, die die Musikanlage bedienen. Alle anderen laufen noch gestresst und angespannt mit verkrampften Lächeln im Kreis. Oder stehen recht verloren im Raum und halten sich an ihrem Bier oder an der Weinschorle fest, weil sie keinen Stuhl mehr abbekommen haben. Manch ein Kind steht in der Ecke und weint oder trinkt verlegen seine Limonade. Früh übt sich zu verlieren. Besonders im Kindergarten.
Wenn wir denken, dass die Herausforderungen, die momentan über uns hereinbrechen, nur gemeinsam und kooperativ zu meistern sind, dann sollten wir uns sehr schnell klar darüber werden, mit welchen Spielen wir sozialisiert worden sind. Welche Spiele wir unsere Kinder spielen lassen und welche Spiele wir miteinander spielen. Ob wir „nur“ gelernt haben, im Team gegen andere anzutreten oder ob wir wirkliche, radikale Kooperation gelernt haben. Denn auf die wird es zunehmend ankommen, wenn wir im Angesicht der Klimakrise, den sicherlich wiederkehrenden Finanz- und Wirtschaftskrisen nicht hinter all unsere zivilisatorischen Errungenschaften zurückfallen wollen.
Welche Spiele wollen wir spielen?
Diese Frage stellt aktuell auch der Berater und Autor Simon Sinek in seinem aktuellen Buch „Unendliche Spiele“. Es basiert auf Gedanken des Philosophen und Theologen James Carse, die dieser bereits in den 80er-Jahren in „Finite and Infinite Games“ formulierte.
Während Sinek ganz in seinem Sinne die Ideen von Carse für Führungsthemen fruchtbar macht, sind die Betrachtungen von Carse durchaus auf die gesamte Wirtschaftswelt und unser gesellschaftliches Miteinander zu übertragen. Insbesondere seine „spielerischen“ Gedanken zum Umgang mit der Natur sollte man aus gegebenem Anlass gelesen haben.
Bei Carse gibt es u. a. ein Kapitel, das „We control Nature for Societal Reasons“ überschrieben ist. Darin finden sich sehr kluge und provokante Gedanken zu unserem Umgang mit der Natur, die man in den aktuellen Klimadiskussionen vergeblich sucht.
Ebenso wie der Einsatz von Atombomben am Ende des zweiten Weltkrieges der finalen Kontrolle über die Besiegten galt und eine Machtdemonstration sein sollte, um die anschließenden Friedensverhandlungen aus einer eindeutigen Position der Stärke heraus führen zu können, so ist auch die „Bewirtschaftung“ und Kontrolle der Natur ein Versuch, Macht über andere Menschen zu bekommen (Ch. 80).
In beiden Fällen kommt maschinelles Input-Output-Denken zum Einsatz. Dieses zählt Carse zu den endlichen, den Finite Games. Wenn die Input-Ressourcen irgendwann versiegen, steht die Maschine still. Anders bei einem Garten, ein kooperatives, ein unendliches Spiel. „The most elemental difference between the machine and the garden is that one is driven by a force which must introduce from without, the other grown by an energy which originates from within intself.“
Die Auseinandersetzung mit der Natur sollte nicht zum Ziel haben, Natur zu verändern, sondern uns: „Our freedom in relation to nature is not the freedom to change nature; it is not the possession of power over natural phenomena. It is the freedom to change ourselves. We are perfectly free to design a culture that will turn in the awareness that vitality cannot be given but only found, that the given patterns of spontaneity in nature are not only to be respected, but to be celebrated.“
Carse geht es am Ende darum, dass wir der Spontaneität der Natur mit unserer eigenen Spontaneität begegnen. Mit unserer Lebendigkeit.
Während unsere (Überwachungs-)Technologien eher unserer Disziplinierung dienen (Carse Ch. 84), bietet uns Natur Möglichkeiten des spontanen, unkontrollierten Austausches mit anderen Lebewesen, mit anderen Formen von Lebendigkeit.
Während wir glauben, unsere Technologien zu Kontrollzwecken nutzen zu können, werden wir zunehmend von den Technologien kontrolliert. „To operate a machine one must operate like a machine. Using a machine to do what we cannot do, we find we must do what the machine does. […] we make ourselves into machinery in order to operate them. Machinery does not steal our spontaneity from us; we set it aside ourselves, we deny our originality.“
Wenn wir also versuchen, durch die Kontrolle von Natur lediglich Macht über andere Menschen, über andere Gesellschaften zu gewinnen und dies auf eine mechanische, technische Art und Weise tun, dann behandeln wir uns auch gegenseitig wie Maschinen. Nach Effizienzkriterien. Nach Kosten-Nutzen-Erwägungen. Wir schreiben ab und werden abgeschrieben. Wir tätigen Investitionen in Beziehungen, wissen aber nicht, wie man Beziehungen wirklich lebt. Am Ende kommen wir beim Aussortieren an. Beim Stuhlkreis. Bei der Frage, wem die Maschinen/Menschen/Stühle gehören.
Darauf laufen endliche, maschinenbasierte Spiele am Ende hinaus. The winner takes it all. Monopoly. Während unendliche Spiele inspirieren. Vermehren. Von Überfluss ausgehen. „The genius in you stimulates the genius in me.“ Oder wie man in einem kooperativen Improvisationstheater-Ensemble sagen würde: „Make others shine!“ – Lass andere gut aussehen. Dann werden sie das Gleiche mit dir tun. Immer und immer wieder…
Das Gleiche gilt für unser Verhältnis zur Natur: Wenn wir unseren eigenen Genius, unsere eigene Lebendigkeit und Einmaligkeit entdecken und zulassen, im gemeinsamen, kooperativen Zusammenspiel mit anderen, dann werden wir auch wieder den Genius in der Natur wiedererkennen können. Und diesen nicht mehr als Bedrohung unseres Menschseins sehen. Sondern als dessen Voraussetzung.
Let´s play altogether!
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