»Wirtschaftsnarren braucht das Land!«
Hier kommt unsere neueste Kolumne, die auf Capital Online erscheint. Dieses Mal über Wirtschaftsnarren, Elefanten im Raum und über Freiheit.
„Wirtschaftsnarren benennen den Elefanten im Raum. Ja, sie sprechen laut aus, dass der digitale Kaiser nackt ist. Auch auf die Gefahr hin, sich mit ihrer Meinung zu isolieren. Dann kann allerdings niemand mehr behaupten, von nichts gewusst zu haben…
Wir von Les Enfants Terribles können sicherlich mit Fug und Recht sagen, dass wir eine Art von Wirtschaftsnärrinnen und –narren sind.
Wir werden oft gefragt, was so ein Enfant Terrible denn eigentlich genau ausmacht. Insbesondere ein „gutes“ Enfant. Narren haben den Herrschern am Hofe durchaus Gutes getan. Man könnte sogar fast behaupten, dass die Hofnarren Mitleid mit ihnen gehabt haben. Mitleid mit ihrer Situation, den nahezu unauflösbaren Dilemmata, die die Macht mit sich bringt.
Heute sind es die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Führungskräfte, Managerinnen und Manager in Spitzenpositionen, die sich in einer sehr unkomfortablen Situation befinden. Sei es die Digitalisierung, die sich verändernde weltwirtschaftliche Lage, das Umschwenken auf neue Geschäftsmodelle oder die Generations- und Kulturunterschiede in den Unternehmen: es läuft ein riesiger Umbau bei laufenden Betrieb. Mit ungewissem Ausgang.
Je früher kritische Fragen gestellt werden, umso schneller und kostengünstiger kann Abhilfe geschaffen werden. Die Konfliktforscherin Myrna Lewis unterscheidet dabei „Neun Stufen des Nicht-Ansprechens“. Dabei ist die früheste Stufe des An- und Aussprechens (unternehmens-)kritischer Umstände die humorvoll verpackte, witzige Äußerung. Wer könnte das besser, als ein Narr?
Auch die Band The Ark behauptete in einem ihrer Texte: „It takes a fool to remain sane“. Es geht also nicht allein um das Lösen und frühe Ansprechen von Problemen, sondern sogar um die psychische und physische Gesundheit aller im Unternehmen. Gute Enfants Terribles bzw. Wirtschaftsnarren finden spielerische Mittel und Möglichkeiten, konfliktreiche Situationen zu entschärfen und lösungsorientiert in der komplexen, digitalen Arbeitswelt von morgen zu agieren.
Hinzu kommt die mittlerweile berühmt-berüchtigte Ambiguität der schönen, neuen VUCA-Welt. Oft zitiert und oft benannt, reduziert sich der Umgang mit Mehrdeutigkeiten im Management darauf, Vereinfachungsstrategien zu fahren und sich ins Risikomanagement zu flüchten. Dabei bietet das Aushalten von Mehrdeutigkeiten, von Vielfalt eben auch ein Vielfaches an unternehmerischen Möglichkeiten. Dazu bedarf es allerdings eine offene Haltung und die Bereitschaft, sich in unsichere Gefilde zu begeben. „Einfalt geht Vielfalt voraus“ könnte man Botho Straus leicht abgeändert aus „Lichter des Toren“ zitieren. Ein Narr oder eine Närrin gehen naiv und unbekümmert, ja geradezu kindlich in neue Situationen hinein und suchen die Vielfalt der Handlungsmöglichkeiten. Ein „So haben wir das aber noch nie gemacht!“ oder „So macht man das aber nicht!“ kennen sie nicht. Man muss also bereit sein, den „Idioten“ zu spielen. Der Philosoph Byung-Chul Han führt in „Psychopolitik“ weiter aus: „Der Idiot ist seinem Wesen nach der Unverbundene, der Nichtvernetzte, der Nichtinformierte.“
Es kann also kaum jemand ein Enfant Terrible oder Narr sein, der dazu gehören möchte. Egal ob zu einem Team, der Abteilung oder der gesamten Organisation: um sich Peer Pressure und Group Think entziehen zu können, bleibt nur die Außenseiter-Rolle. Die braucht es heute mehr denn je. Denn nur sie bringt den wirklichen Blick von außen. Die fremde und frische Perspektive. Natürlich stößt sie auf „not invented here“ und viele andere Elemente des organisationalen Immunsystems. Darin besteht die größte Herausforderung des Methodenköfferchens eines Enfant Terrible: wie kann diesem Immunsystem mit Herz, Hirn, Hand und Humor begegnet werden?
„Der Idiot ist ein moderner Häretiker. Häresie bedeutet ursprünglich „Wahl“. Der Herätiker ist also jemand, der über eine freie Wahl verfügt,“ so Han. Sie oder er entgeht den Systemzwängen, die insbesondere im Falle notwendiger Veränderungsprozessen am stärksten werden. Dies tut der Narr, die Närrin mit Hilfe künstlerischer und philosophischer Denk- und Handlungsweisen. Es wird hinterfragt, dass sich die Balken biegen – und das so schön wie möglich. „Eine Ansicht muss so schön sein wie eine Aussicht. Nichts mag stimmen, wenn nur die Stimmung überzeugt.“ – so formuliert es Botho Strauss.
Das Wichtigste dabei ist und bleibt die geistige und wirtschaftliche Unabhängigkeit des Wirtschaftsnarren. Der Autor Upton Sinclair beschreibt diesen Sachverhalt so: „Es ist schwierig, jemanden dazu zu bringen, etwas zu verstehen, wenn er sein Gehalt dafür bekommt, dass er es nicht versteht.“ Ohne finanzielle Unabhängigkeit kann der Wirtschaftsnarr nicht das leisten, was in den heutigen Zeiten so wichtig ist: Offenheit, tiefes Verstehen, freies, humorvolles Spiel mit den Umständen und ehrliche Kritik. Um Möglichkeitsräume zu finden. Wirklich Neues zu denken und zu finden – gemeinsam mit den anderen Menschen im Unternehmen.
Dabei gilt es einen Widerspruch zu leben. Einerseits muss der Wirtschaftsnarr sich verständlich machen und gleichzeitig unverständlich, mehrdeutig bleiben. Kahlil Gibran formulierte das in „Der Narr“ wie folgt: „In meiner Narrheit fand ich Freiheit und Sicherheit: Die Freiheit der Einsamkeit und die Sicherheit vor dem Verstandenwerden. Denn diejenigen, welche uns verstehen, versklaven etwas in uns.“ Was im Zeitalter des „digitalen Verstandenwerdens“ durch Datensammlungen und deren Auswertung eine starke Aktualität bekommen hat. Doch ein Daten- und Denk-Sklave sind weder der Narr noch ein gutes Enfant Terrible.
Ein guter Wirtschaftsnarr setzt sich als Freigeist mit seinen und den Gedanken anderer auseinander, sucht und schafft sich Orte für freie, unüberwachte Rede. Hier beginnt nach Hannah Arendt bereits das Handeln. Ein Handeln in Freiheit.
Währenddessen sehnen sich die Unternehmen nach „Machern“, die umsetzen – egal was und mit welchen Folgen. Das Bevorzugen vom „Machen“ gegenüber dem Denken und Reden schneidet das Tun allerdings von seinen tiefen Kraftquellen ab. Wirklich innovatives Tun benötigt vorangegangenes freies Denken und darüber reden. Tiefes Denken und Verstehen braucht Zeit. Ja, sorry, das gilt auch und womöglich gerade für das hyperbeschleunigte, digitale Zeitalter. Ein Enfant Terrible nimmt sie sich daher. Nein, er bzw. sie hat sie einfach.
Und das ist wohl das Schrecklichste, was man heutzutage in der Wirtschaftswelt tun kann. Sich die Zeit nehmen, die man braucht. Für eine wirkliche Vielfalt im Quer- und Andersdenken. Und damit einer Vielfalt an neuen Arbeits- und Wirtschaftsformen.“
Wer diesen Text auf Capital Online finden möchte, der kann das hier.
Und die Capital Kolumne Nr. 2 ist hier und die Nr. 1 hier.