»New Work = „Mean-Washing“?«

  • 21.06.2023
  • von Gastautor*in
  • Lesezeit: 8 Minuten
Ein ehrlicher Austausch zu neuen Organisations- und Arbeitsformen beim Klassentreffen der Freiräumer 2023 in Graz ...
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Am 12. und 13. Juni 2023 trafen sich 350 Teilnehmer:innen in Graz, um sich zu Selbstorganisation, Ganzheit und unternehmerischem Sinn auszutauschen.

Die Freiräume (Un)Conference ist Österreichs größte Veranstaltung zu neuen Organisations- und Arbeitsformen. Diesjähriger Schwerpunkt: „Der Wert von Arbeit“.

Und ich war dabei! Yeay!

Foto: freiräume 2023

Die Tickets verdanke ich einem Besuch meines verwaisten Instagram Accounts, bei dem ich an einer Verlosung der Les Enfants Terribles teilnahm und die Eintrittskarten für die Veranstaltung gewann. Dankeschön!

Ich gestehe, zwischendurch hab ich sie ja ein bisschen beneidet: Die Mitarbeiter:innen der Firmen und Organisatoren, für die ihre Anwesenheit Teil ihrer Arbeit ist. Für mich war es offiziell Urlaub. Mein Urlaubsantrag war genehmigt, meine Freundin Susanne, die Graz liebt, hatte mir bereits „Must-See“s rausgesucht und jede Menge Bilder geschickt. Also reihte ich mich zunächst in die Reihe der selbständigen Berater:innen und Coaches ein.

Nach einer systemischen Aufstellung zur groben Beschreibung des anwesenden Feldes merkte ich jedoch schnell: Es ist egal, wie fortgeschritten wir schon agile Arbeitsformen lebten, wie groß unsere Berufserfahrung ist und wieviele Bücher wir bereits zu dem Thema gelesen haben: eins verbindet uns und das scheint mir Neugier zu sein. Neugier auf das Neue und Fragen, viele Fragen, wie z.B.: Ist das schon Arbeit oder lebst du noch?

»Das gemeinsame Ziel der Freiräumer ist, Arbeit anders zu denken.«

… weiß Peter, Teil des Helferteams. Er spricht von einer „Fanbase, die sich jedes Jahr trifft“. Und für Robert ist es „einfach nur schön, Gleichgesinnte zu treffen und nicht bei jeder Diskussion von Null anfangen zu müssen“.

Der Wert der Arbeit

Im mittlerweile achten Veranstaltungsjahr geht es um den Wert der Arbeit.

  • Woran bemisst man den Wert der Arbeit?
  • Nach welchen Werten streben wir als Mensch eigentlich?
  • Brauche ich Geld oder Beziehungen zum Erblühen?

Ironischerweise merke ich erst in dieser schriftlichen Reflexion, wie sehr ich selbst schon in diese Welt hineingewachsen bin. Ich erinnere mich an Gespräche, in denen ich versuchte, Menschen in meiner Umgebung klarzumachen, dass die New Work Buzzwords mit Leben zu füllen sind, dass es nicht um eine Implementierung von MS Teams geht, wenn man über Kollaboration spricht und Arbeit ein positiver Teil unseres Lebens ist. Spätestens da sind dann viele Gesprächspartner:innen ausgestiegen, da der Realitätscheck ihnen überdeutlich zeigte, dass sie sich auf Feiertage, Urlaub und die Rente freuten und nicht auf das nächste Meeting, die nächste Aufgabe oder das nächste Ziel.

Fragen und Herausforderungen

Nun stehe ich mittendrin in der neuen Arbeitswelt, ihren Gestaltern und den neuen Fragen und Herausforderungen:

  •  Ein holokratisch reorganisiertes Unternehmen, was versucht Mitarbeiter:innen die Rolle des Circle Leads schmackhaft zu machen. Was sind die Motivatoren, ohne zusätzliches Geld mehr Verantwortung zu übernehmen? Ist persönliche Weiterentwicklung, Sichtbarkeit und direkter Austausch mit den Geschäftsführern ausreichend, um ggf. mögliche Ängste zu überwinden?  Hilft ein klarer Purpose und eine wertschätzende Kultur für den Einstieg oder starten wir nun doch ohne benannte Führung und hoffen darauf, dass sich ein natürlicher Lead herauskristallisieren wird?
  • Ein Recyclingunternehmen, in dem Nachhaltigkeit, Partizipation und Homeoffice das neue Gebäudekonzept bestimmen und sich fragt, ob sie mit diesen Werten wirklich zukünftige Mitarbeiter:innen gewinnen. Wenn man „From Waste to Value“ auch von den Mitarbeitenden wünscht, wie sehr ist es Bevormundung oder freundliches „Nudgen“, also stupsen, wenn man Ökobonus zahlt damit sich die Menschen in Fahrgemeinschaften den Weg zur Arbeit organisieren?
  • Ein agil organisiertes IT-Unternehmen, das Unternehmensbeteiligungen einführen will und sich versucht, aus einem Dschungel von Bürokratie, Abhängigkeiten und Ängsten zu befreien. Konfrontiert mit dem Unverständnis und Projektionen der Außenstehenden schweißt es sie noch enger zusammen und der Wille zur Lösungsfindung steigt. Auch ganz ohne Nordstern wollen sie ihren Werten Spaß, Fairness und sinnvollem Tun nachgehen und Verantwortung und Geld teilen.

… und immer wieder die Fragen:

  • Wie kann die Gründer-Zentriertheit aufgelöst werden?
  • Halten wir uns strikt an ein bestimmtes Framework (wenn ja, an welches?) oder ist eine Adaption auf die Bedürfnisse der Mitarbeitenden unerlässlich?
  • Wieso sind es immer wieder IT-Unternehmen, die Agilität und „New Work“ leben obwohl es so aussieht als lassen sich deren Mitarbeiter:innen von „Inner Work“ nur schwer begeistern?
  • Wieso fällt es uns so schwer uns vom „höher, schneller, weiter“ zu verabschieden?
Nadine Nobile bei ihrem Vortrag zu "New Pay"

Wertschätzung ≠ Gehalt – von Gurken und Weintrauben

Die Keynote des ersten Tages „Der Wert der Arbeit“ von Nadine Nobile proklamiert: Wertschätzung ist ungleich Gehalt. Das Gehalt sollte losgelöst betrachtet werden von einer persönlichen Wertschätzung – durch andere wie auch vom eigenen Selbstwertes. Nadine hinterfragt, was eigentlich „kompensiert“ wird bei der Kompensation: vielleicht Mangel oder Schmerz? Geht es um Be- oder Entlohnung? Und ist uns allen bewusst, was der Preis unserer Entscheidung ist, wenn wir z.B. Einzelboni zahlen? Was macht das mit den anderen und welche Folgekosten entstehen daraus? Sehr einprägsam: ein Video über zwei Kapuzineräffchen, von denen der eine mit Gurken und der andere mit Trauben gefüttert wird. Wie wütend jemand sein kann, der Gurken eigentlich mag und dann aber merkt, dass ein anderer (die besseren) Trauben bekommt. Was macht es wohl mit dir? Wie würdest du dich fühlen, wenn du nur Gurken bekommst?

Von Äffchen, Trauben, Gurken und dem Gerechtigkeitssinn

Über die Gemeinwohl-Ökonomie

Autor, Aktivist und Tänzer Christan Felber fordert in seiner Keynote am zweiten Tag, neue Werte für die Wirtschaft. Eine Alternative zum Kommunismus und zum Kapitalismus sucht er und spricht vom ethischen Welthandel. Er meint, dass wir mit unserem Effizienzgedanken „weit über das Ziel hinausgeschossen sind“ und dabei unsere Menschenwürde geopfert haben. In einem Experiment misst er mit zehn freiwilligen Teilnehmern auf der Bühne den Widerstand gegenüber verschiedenen Optionen: das 5-fache des Mindestlohns ist für die Anwesenden ein gerechter Höchstwert, den ein Mensch verdienen darf. Wie seht ihr das?

»Wenn der Sinn der Arbeit nicht ist, jemanden aus dem Feld zu räumen, sondern gemeinsam das Feld zu bestellen, sind wir auf dem richtigen Weg.«

… sagt er und verdeutlicht immer wieder:

»Geld ist nur ein Mittel und nicht der Sinn unserer Existenz.«
Christian Felber zu Gemeinwohlökonomie

Unsicherheit

„Ich bin gestresst, wenn ich Geld verdiene. Wenn ich Geld für meine Arbeit bekomme, setzt mich das unter Druck und schon bin ich schlechter, brauche länger, fühle mich nicht gut…“ beschreibt Magdalena in der Mittagspause danach ihr Verhältnis zu Geld und unterstreicht damit die Aussage von Christian Felber, dass wir uns ein weder uns noch dem Allgemeinwohl förderlichen Bild von Geld zugelegt haben. Wie sonst kann es sein, dass das Betreuen eines Hedgefonds mehr wert ist als das Betreuen von Menschen?

Einer der vielen OpenSpace Angebote beleuchtet die psychologische Sicherheit und stellt ein paar schöne Thesen auf:

·       Über Fehler zu sprechen, vermeidet Fehler.

·       Menschen machen Irrtümer und keine Fehler.

·       Wenn du an Fehler glaubst, dann bedenke: Fehler sind billig. Billige Fehler.

Und was kommt als nächstes?

Christian (nicht Felber :-)) resümiert: „Endlich habe ich Worte für das gefunden, was ich schon so lange gespürt habe. We make a crowd!“

„Ich wünsche mir noch mehr „Un“ als Konferenz! Auch wenn ich nicht weiß, wie das aussieht …“ sagt jemand aus meiner Reflexionsgruppe. „Heuer“ wie der Österreicher sagt bin ich glücklich und dankbar, zu erleben, wie reibungslos die ausgewählten Formate und Elemente der Veranstaltung in sich und miteinander funktionieren: Open Space, Pionierstationen, Deep Dive Workshops, Reflexion, Keynotes, Transferübung begleitet von Fretikette, Buchstationen und Räumlichkeiten bzw. wunderschönen grünen Freiflächen, die Dialog und Individualität sowie Wissen und Entspannung fördern. Aber na klar… was kommt als nächstes? Welche neuen Veranstaltungen werden das klassische Beraterkonferenzformat mit Agenda, Theaterbestuhlung, Infoständen und Visitenkartenaustausch irgendwann komplett vergessen lassen? Derzeit bewundere ich das Geschick und Gespür der beiden Organisatoren Manuela und Gregor. Sie scheinen zu ahnen, was die Menschen derzeit brauchen und bewegt.

Impressionen von der Freiräume (Un)Conference 2023

Am Ende der zwei Tage sind viele geflasht oder/und ermattet ob der Flut von Eindrücken. Andere können nicht genug bekommen und erinnern mit leuchtenden Augen an die „funkensprühenden, fantastischen Reflexionsgruppen“. Ich denke ebenfalls lächelnd an meine drei Jungs zurück. Sie haben mich motiviert, zukünftig noch mehr von dem zu tun, was ich liebe. Konkret werde ich eine New Work Community in Frankfurt finden. Falls das nicht klappt, gründe ich eine. Und wie das so ist, wenn man eine konkrete Absicht hat und diese dann auch noch ausspricht, lerne ich beim Abschlussapplaus Christine aus dem Nordend kennen, meinem Nachbarstadtteil. Ich freu mich schon auf ein baldiges Wiedersehen mit ihr und den anderen Freiräumern sag ich:

Ciao und Baba!
Bis zum nächsten Klassentreffen in 2024!

Hier kommen noch die Empfehlungen vom Büchertisch der Freiräume:

  • Claudia Schröder/Bernd Österreich: „Agile Organisationsentwicklung“

    Vahlen, 2020

    264 Seiten, 35,00 Euro

    ISBN 978-3-8006-6076-6

  • Martin Permantier: „Haltung entscheidet, Führung & Unternehmenskultur zukunftsfähig gestalten“

    Vahlen, 2023

    367 Seiten, 34,90 Euro

    ISBN 978-3-8006-7098-7

  • Joana Breidenbach/Bettina Rollow: „Die entfaltete Organisation, Mit Inner Work die Zukunft gestalten“

    Vahlen, 2023

    287 Seiten, 24,90 Euro

    ISBN 978-3-8006-7022-2

  • Joana Breidenbach/Bettina Rollow: „New Work needs Inner Work, Ein Handbuch für Unternehmen auf dem Weg zur Selbstorganisation“

    Vahlen, 2. Auflage. 2019

    152 Seiten, 19,80 Euro

    ISBN 978-3-8006-6137-4

  • Sven Franke/Stefanie Hornung/Nadine Nobile: „New Pay – Alternative Arbeits- und Entlohnungsmodelle“

    Haufe Verlag, 2019

    285 Seiten, 39,95 Euro

    ISBN: 978-3-648-11725-5

  • Christian Felber: „This is not economy: Aufruf zur Revolution der Wirtschaftswissenschaft“

    Deuticke Verlag, 2019

    304 Seiten, 22,00 Euro

    ISBN 978-3552064027

Monja ist systemische Organisations- und Teamentwicklerin. Ihr Herz schlägt für New Work und Visualisierungen. Seit über 20 Jahren  arbeitet sie als Projektmanagerin in verschieden Organisationen im Bereich Marketing, Event und IT, in den letzten Jahren verstärkt im Bereich Change und Transformation.

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